Sonntag, April 28, 2024

Steigenden Krankheitslast durch alternde Bevölkerung

Die steigende Lebenserwartung und die vorwiegend sitzende Lebensweise sorgen für einen wachsenden Bedarf an orthopädischen und unfallchirurgischen Leistungen. Nicht umsonst ist Sitzen das neue Rauchen. Rückenschmerzen, Arthrose und die Volkskrankheit Osteoprorose mit Knochenbrüchen – ob nach einem Sturz im Alter oder beim Sport – sind zunehmende Erkrankungen, die auch in Zukunft qualitätsgesichert behandelt werden müssen [1].

Dafür sind zweifelsohne mehr Orthopäden und Unfallchirurgen und gut qualifiziertes Assistenzpersonal notwendig – aber es braucht auch ein neues, definiertes Miteinander zwischen den Sektoren. Der Berufsverband für Orthopädie und Unfallchirurgie (BVOU) und die Fachgesellschaften DGOU, DGU, DGOOC und VLOU arbeiten an Vorschlägen zur Lösung dieser Probleme. Schließlich ergeben sich dabei sechs Handlungsfelder.

 

Bessere sektorenübergreifende Versorgung

An der Versorgung muskuloskeletaler Erkrankungen sind derzeit vier Gruppen beteiligt: die konservativ und konservativ-operativ tätigen Orthopäden und Unfallchirurgen in der Niederlassung, die operativen Schwerpunktpraxen / Belegabteilungen / Kooperationsärzte und die orthopädischen und unfallchirurgischen Kliniken.

Diese Akteure müssen über neue Strukturen und Kooperationsmodelle besser vernetzt werden. Dafür wird es nötig sein, die Art der Zusammenarbeit genau zu definieren und ein sektorenübergreifendes Versorgungssystem zu entwickeln, bei dem der vom „Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen“ geforderte Grundsatz gilt: gleicher Preis für gleiche Leistungen, egal wo die Leistung erbracht wird, in der Klinik oder im ambulanten Bereich [2]. Außerdem müssen die Kooperationsmodelle rechtssicher und frei vom Verdacht der Korruption sein.

Die Techniker Krankenkasse testet derzeit in Thüringen ein mögliches sektorenübergreifendes Vergütungssystem, die sogenannten Hybrid-DRG (diagnosebezogene Fallgruppen). Niedergelassene Ärzte und Kliniken erhalten im Rahmen dieses Pilotprojekts bei vier Operationen dasselbe Honorar. Dem sektorenunabhängigen Preis liegt eine komplexe Kalkulation zugrunde, die allen dienen soll. Ergebnisse werden für das kommende Jahr erwartet [3]. Daneben gibt es selektive Facharztverträge und integrierte Versorgungsverträge.

 

Mehr Planungssicherheit auf allen Ebenen

Die mangelnde Planungssicherheit stranguliert Kliniken und Praxen gleichermaßen. Investitionsstau, unbezahlte Vorhalteleistungen, die Probleme beim DRG-System, Budgetierung und das Warten auf eine EBM-(einheitlicher Bewertungsmaßstab) und GOÄ(Gebührenordnung für Ärzte)-Reform sind nur einige der Probleme. Wir brauchen dringend Sicherheit bei der Bedarfsplanung und Finanzierung der Krankenhäuser und Vergütungssysteme für den niedergelassenen Bereich, die den Versorgungsbedarf der Bevölkerung UND den Stand des aktuellen medizinischen Fortschritts abbilden. Vergütungssysteme also, die Leistungen nicht budgetieren, sondern zu festen betriebswirtschaftlich kalkulierten Preisen vergüten.

Der Scheinwert im Fach Orthopädie und Unfallchirurgie ist heute genauso hoch wie 1985. Berücksichtigt man die Inflationsrate, die steigenden Betriebskosten der Praxen, insbesondere durch höhere Personalkosten und zum Beispiel die neuen Hygieneanforderungen und die Maßnahmen zur Umsetzung des neuen Datenschutzgesetzes in den Praxen, hat sich der Wert unserer Arbeit in den letzten dreißig Jahren halbiert. Die aktuelle GOÄ ist seit 1996 nicht mehr aktualisiert worden. Eine vom Bundesgesundheitsministerium eingesetzte Honorarkommission soll bis Ende 2019 Vorschläge machen. Diese Vorschläge dürfen nicht auf eine einheitliche Gebührenordnung für alle hinauslaufen, denn dann würden die Ärzte wieder die Zeche zahlen.

 

Verbund-Weiterbildung zwischen Kliniken und Praxen

Obwohl die konservativen Inhalte von O&U in der Weiterbildungsordnung verankert sind, werden sie in geringerem Umfang vermittelt. Der BVOU und die Fachgesellschaften haben im vergangenen Jahr mit einem „Weißbuch Konservative Orthopädie und Unfallchirurgie“ auf diese Entwicklung aufmerksam gemacht [4]. Da viele Kliniken einen operativen Schwerpunkt haben und weniger konservativ behandeln, da auch der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) diese stationären konservativen Behandlungen den Krankenhäusern herausprüft, lernen die jungen Kolleginnen und Kollegen weniger konservative Weiterbildungsinhalte.

Es ist daher dringend notwendig, den ambulanten Bereich und die Rehabilitationskliniken in die Weiterbildung einzubeziehen, weil viele konservative Inhalte nur noch dort angemessen vermittelt werden können. Auch im stationären Bereich muss die konservative Therapie bei – noch – fehlender Operationsindikation eine sinnvolle Alternative zur Behandlungseskalation werden, wenn die ambulante Behandlung erfolglos geblieben oder nicht zielführend ist. Wissen und Kompetenzen in der nicht operativen Orthopädie und Unfallchirurgie drohen sonst als ein fester Bestandteil des Fachs verloren zu gehen.

Kleinere hand- und fußchirurgische Eingriffe und arthroskopische Operationen werden in hohem Umfang in spezialisierten operativen Vertragsarztpraxen, Operationszentren und Medizinischen Versorgungszentren durchgeführt und sollten deshalb in eine neue Verbund-Weiterbildung einbezogen werden. Allerdings muss die Einbeziehung ambulanter Zentren und Praxen auch entsprechend finanziert werden. Weiterbildung ist nicht zum Nulltarif zu haben, weder in der konservativen Orthopädie und Unfallchirurgie noch in der operativen Medizin. Wir brauchen eine angemessene Vergütung für Weiterbildung sowohl in den Kliniken und Praxen und insbesondere für solche neuen Verbund-Weiterbildungen.

 

Nachwuchs auf allen Ebenen gefordert

O&U ist wegen des wachsenden Bedarfs ein zukunftssicheres Fach. Wir behandeln viele Patienten und es werden mit jedem Jahr mehr. Trotzdem wollen nur 5,5 Prozent der Studenten Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie werden [5]. Der Anteil der Frauen bei der Facharztprüfung für Orthopädie und Unfallchirurgie liegt bei 23 Prozent, in der Niederlassung nur bei 11 Prozent. Dabei sind die meisten Studienanfänger im Fach Medizin Frauen. Ihr Anteil lag 2016 bei 61 Prozent [6]. Weitere Entwicklungen kommen hinzu. Die „Selbstausbeuter-Generation“, also die Generation, die Arbeit über Freizeit gestellt hat – geht in den Ruhestand. Es gibt zwar heute 62 Prozent mehr Ärzte als 1990, trotzdem mangelt es vielerorts an Kollegen. Viele gehen keiner ärztlichen Tätigkeit mehr nach, sondern arbeiten berufsfremd, sind im Ruhestand oder in Elternzeit.

Derzeit machen noch circa 5300 Ärzte eine Weiterbildung in O&U, circa tausend legen jedes Jahr ihre Facharztprüfung ab [7]. Das wird in den nächsten Jahren noch reichen, allerdings kann sich das schnell ändern. Es besteht kein Zweifel, dass mehr Frauen für O&U gewonnen werden müssen und dass die derzeitigen Zahlen angesichts des Arbeitszeitgesetzes, des Wunsches nach Teilzeit und anderer Entwicklungen sorgfältig zu beobachten sind. Es ist zudem dringend nötig, mehr gut qualifiziertes Assistenzpersonal zu gewinnen. Viele Stellen können heute gar nicht mehr oder nur mit Mühe besetzt werden. Wir müssen hier familienfreundlichere, adäquate Beschäftigungsstrukturen an Praxen und Kliniken schaffen.

 

Stärkung des freien Berufs „Arzt“

Die ärztliche Tätigkeit ist ein freier Beruf und sollte zum Wohle der Patienten auch möglichst unabhängig in ihrem Entscheidungskorridor bleiben. Es ist unsere Pflicht, Patienten unter den Bedingungen der gesellschaftlichen Solidarität bestmöglich zu behandeln. Viele Mediziner finden sich am Ende ihrer Aus- und Weiterbildung in einem System wieder, das ihnen kaum Luft zum Atmen lässt und in dem sie bis zu 50 Prozent ihrer Zeit mit nicht ärztlichen Tätigkeiten wie Dokumentation verbringen.

Der Bürokratieabbau, auch unter Einbeziehung der Digitalisierung, ist für alle Arztgruppen zu fordern. Viele Chefärzte haben in zunehmender Anzahl kein privates Liquidationsrecht mehr, werden durch Zielvereinbarungen und Vertragsklauseln unter Druck gesetzt und durch betriebswirtschaftliche Vorgaben gegängelt. Dieser Trend wird vor allem durch private Klinikträger und insbesondere durch die großen privaten Klinikkonzerne mit klaren Renditevorgaben verstärkt. Die Chefärzte und Oberärzte werden schrittweise entmachtet, all das widerspricht dem Geist eines freien Berufs.

Die Alternative zum Krankenhaus, als niedergelassene Vertragsärztin und Vertragsarzt zu arbeiten, hat viele Facetten. Angehende Vertragsärztinnen und -ärzte sollten sich umfassend informieren, sich betriebswirtschaftliches Know-how aneignen und vorab wichtige Kenntnisse zur ambulanten Versorgung erlernen. Wir brauchen dringend eine Aufwertung der Niederlassung. Niedergelassene Orthopäden und Unfallchirurgen sind keine Schmalspurkollegen, sondern tragen den Großteil der Versorgung. Die Kolleginnen und Kollegen können auch verschiedene Arbeitszeitmodelle umsetzen. Die Praxen sind viel besser als ihr Ruf und die Kolleginnen und Kollegen können selbstbestimmt arbeiten. Allerdings sollten ihre Leistungen angemessener honoriert werden.

 

Vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Krankenkassen

Die Weiterentwicklung von O&U wird nicht ohne Zusammenarbeit mit den Krankenkassen gehen, etwa durch mehr partnerschaftliche Selektivverträge, denen ein gemeinsames Verständnis von den Aufgaben und Zielen der orthopädisch-unfallchirurgischen Versorgung zugrunde liegt. Bei Selektivverträgen liegt das Morbiditätsrisiko bei den Krankenkassen, nicht beim Arzt, weil Leistungen nach festen Beträgen erstattet werden, nicht nach wechselnden Punktwerten, und weil auch Vorhalteleistungen angemessen honoriert werden.

FAZIT: Wir werden Vorschläge für gut definierte sektorenübergreifende Versorgungsmodelle entwickeln und dabei immer die optimale und hochqualitative Versorgung der Patienten im Blick haben. Dazu brauchen wir Planungssicherheit in monetärer und juristischer Hinsicht. Wir brauchen eine Reform von EBM und GOÄ, eine Reform des DRG-Systems, eine Entbudgetierung der Grundleistungen sowie Rechtssicherheit bei den verschiedenen Kooperationsformen. Wir werden zudem mehr in die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses und der Assistenzberufe investieren, vor allem muss das Fach Orthopädie und Unfallchirurgie für junge Kolleginnen und Kollegen in Praxis und Klinik attraktiver ausgerichtet werden. Dringend notwendig ist ein immer wieder angemahnter Abbau der Bürokratie, auch mithilfe der Digitalisierung. Wir werden uns auch noch intensiver für den Arztberuf als freien Beruf in Praxis und Klinik einsetzen.

Literatur:

[1] Petzold T et al. Orthopädisch-unfallchirurgische Versorgung bis 2050. Der Orthopäde 2016; 45:167-173

[2] https://www.svr-gesundheit.de/fileadmin/user_upload/Gutachten/2018/SVRGutachten_ 2018_Kurzfassung.pdf

[3] https://www.tk.de/tk/archiv/im-september-2017/btw17-hybrid-drg/959922

[4] Psczolla M. et al. Weißbuch Konservative Orthopädie und Unfallchirurgie. De Gruyter Verlag; 2017. ISBN 978-3-11-053433-7

[5] https://www.hartmannbund.de/fileadmin/user_upload/Downloads/Umfragen/2015-02- 13_Medizinstudium2020-Plus.pdf

[6] https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/Indikatoren/LangeReihen/Bildung/lrbil05.html

[7] Münzberg M et al. Wie viel Nachwuchs braucht das Land? Eine aktuelle Datenerhebung zur Anzahl der Ärzte in Weiterbildung in Orthopädie und Unfallchirurgie. Der Unfallchirurg 2017; 120: 355–362


Quellen:

Zukunftsaufgaben für O&U angesichts der steigenden Krankheitslast durch die alternde Bevölkerung in Deutschland Dr. med. Gerd Rauch Kongresspräsident des DKOU 2018, Berufsverband für Orthopädie und Unfallchirurgie (BVOU), Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, Orthopädisch-chirurgische Gemeinschaftspraxis und Praxisklinik Kassel Dr. Gerd Rauch, Dr. Johannes Flechtenmacher, Prof. Dr. Bernd Kladny, Prof. Dr. Dietmar Pennig, Prof. Karl-Dieter Heller zum Deutschen Kongresses für Orthopädie und Unfallchirurgie (DKOU), Oktober 2018, Berlin

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