Samstag, April 27, 2024

Wichtiger Puzzlestein für die Therapie seltener genetischer Erkrankungen entdeckt

Ein Gen ist für seltene genetischer Erkrankungen und seltene Entwicklungsstörungen mitverantwortlich, die Epilepsie und Autismus auslösen.

Viele Zelltypen im menschlichen Körper verfügen über einen präzisen Mechanismus zur Kalziumaufnahme. Ein Gen, in dem ein Teil des Bauplans für diese sogenannten Kalziumkanäle codiert ist, ist gleichzeitig für eine seltene menschliche Entwicklungsstörung mitverantwortlich, die Epilepsie und Autismus auslöst. Eine Innsbrucker Forschungsgruppe untersucht diese Zusammenhänge und arbeitet an einer möglichen Therapieform. Autismus und Epilepsie treten gehäuft im frühen Kindesalter auf. Die Ursachen dieser Entwicklungsstörungen liegen noch weitgehend im Dunkeln. Jetzt haben Forscherinnen und Forscher erstmals wichtige Zusammenhänge entdeckt.

Kalzium ist im Körper des Menschen eine streng regulierte Substanz. Der Mineralstoff ist nicht nur für die Knochen und Zähne wichtig, sondern spielt auch eine wesentliche Rolle bei der Funktion von Muskeln, im Herz-Kreislauf-System, dem Hormonhaushalt oder im Nervensystem. Viele Zelltypen im menschlichen Körper verfügen über einen eigenen Mechanismus, der bei Bedarf eine exakte Menge geladener Kalziumionen in ihr Inneres gelangen lässt. Wenn diese Zellen elektrisch erregt werden, öffnen sich für Bruchteile von Sekunden sogenannte Kalziumkanäle – kleine Poren, durch die tatsächlich nur Ionen dieses Elements durchschlüpfen können. Dieser Mechanismus ist beispielsweise auch in den Herzmuskelzellen an der Organisation einer regelmäßigen Kontraktion des Organs, also des Herzschlags, beteiligt.

Jörg Striessnig, Professor am Department für Pharmakologie und Toxikologie der Universität Innsbruck, beschäftigen die Kalziumkanäle der menschlichen Zellen schon seit den frühen 1980er-Jahren. In seiner Arbeitsgruppe wurde unter anderem erforscht, wie das Öffnen und Schließen der Kanäle durch eine elektrische Erregung konkret funktioniert und auf welche Weise Medikamente diesen Mechanismus beeinflussen. Zudem konnten dank fortgeschrittener molekularbiologischer Forschungsmethoden bestimmte Probleme bei der Regulierung der Kanäle mit seltenen genetischen Erkrankungen in Verbindung gebracht werden, die kindliche Entwicklungsstörungen, Autismus oder Epilepsie auslösen. In einem aktuellen vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt versucht Striessnig mit Kolleginnen und Kollegen, noch mehr über diese Zusammenhänge herauszufinden und mögliche erste Therapieformen zu finden.

 

Spontane Gen-Mutationen lösen Krankheiten aus

„Mit den Möglichkeiten des ‚Next Generation Sequencing‘ kann die genetische Information eines Menschen schnell und vergleichsweise günstig erhoben werden“, erklärt Striessnig. „Damit können auch genetische Erkrankungen, die nicht vererbt wurden, sondern durch spontane Mutation entstehen – man spricht von De-novo-Mutationen –, besser charakterisiert werden.“ Dank der schnellen Sequenzierungsmethoden und neuartiger bioinformatischer Auswertungsmöglichkeiten werden so auch immer mehr menschliche Gene identifiziert, die durch ihre Defekte angeborene Entwicklungsstörungen auslösen können.

Unter anderem wurde auf diese Art das Gen mit der Bezeichnung CACNA1D als Risikofaktor für die Entstehung von Autismus identifiziert. Gleichzeitig ist CACNA1D Striessnig und seinem Team auch durch ihre Kalziumkanal-Forschung wohlbekannt. Denn das Gen ist für die Erzeugung eines Proteins verantwortlich, das für den Öffnungs- und Schließmechanismus einer bestimmten Art der Kalziumkanäle mit der Bezeichnung Cav1.3 zuständig ist.

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben nun anhand von Zellkulturmodellen untersucht, welche Funktionsänderung jener für die Entwicklungsstörung verantwortliche Gendefekt in den Kalziumkanälen auslöst. „Wir haben gesehen, dass es da zu einer Veränderung in der Art kommt, wie sich der Kalziumkanal öffnet und schließt“, fasst Striessnig das Ergebnis der Untersuchung zusammen. „Der Gendefekt aktiviert diese Kalziumkanäle und verstärkt ihre Funktion.“

 

Genetische Entwicklungsstörung, die Epilepsie und Autismus auslöst

Die Zahl der Personen, deren Erkrankung auf einem Gendefekt von CACNA1D fußt, ist überschaubar. Striessnigs Arbeitsgruppe ist mit etwa zwölf Familien auf der ganzen Welt in Kontakt, bei denen ein Kind Entwicklungsstörungen mit dieser Ursache aufweist. Zum Krankheitsbild gehören in den meisten Fällen eine stärkere intellektuelle Beeinträchtigung und Epilepsie, bei einigen Fällen auch Autismus und autoaggressives Verhalten. „Es ist eine ganz seltene Erkrankung, aber sie ist auch bestimmt unterdiagnostiziert und es kommen ständig neue Fälle dazu“, resümiert Striessnig.

In der Erprobung einer Therapie greifen die Forschenden nun auf bereits existierende Medikamente zurück, die in den Mechanismus rund um die Kalziumkanäle eingreifen – allerdings ursprünglich zu einem ganz anderen Zweck: um Bluthochdruck zu behandeln. Diese „Kalziumkanalblocker“ lassen ein Molekül am Kalziumkanal andocken, das die Aufnahme des Stoffes hemmt. Die Konsequenz ist, dass die Arterien erschlaffen und Intensität und Frequenz des Herzschlags zurückgehen – damit sinkt auch der Blutdruck.

 

Vorsichtige Erprobung existierender Medikamente

Nun stellt sich die Frage: Können diese Medikamente auch bei den Entwicklungsstörungen eingesetzt werden, um die verstärkte Aktivität der Kalziumkanäle zu mindern? Bisherige Studien der Innsbrucker Arbeitsgruppe haben ergeben, dass die Empfindlichkeit gegenüber den Kalziumkanalblockern mit der aufgrund des Gendefekts erhöhten Aktivität zunimmt, was Striessnig zuversichtlich stimmt. Nun ist er mit seinem Team dabei, die Familien und behandelnden Ärztinnen und Ärzte der jungen Betroffenen für eine vorsichtige Erprobung des Therapieansatzes zu gewinnen. „Wir müssen uns erst an die richtigen Konzentrationen des Wirkstoffes herantasten, die die Kalziumaufnahme im richtigen Maße hemmen“, erklärt der Pharmakologe.

Doch auch wenn dieser Ansatz funktioniert, dürfe man sich keine vollständige Heilung erwarten, schickt Striessnig voraus. Was aber eintreten könnte, ist eine Abmilderung der Symptome: Epileptische Anfälle könnten seltener auftreten, die Kommunikationsfähigkeit könnte sich verbessern, vielleicht das autoaggressive Verhalten abnehmen – Fortschritte, die für Patientinnen und Patienten wie Eltern in dieser Situation enorm wichtig wären. Ein erstes Etappenziel ist nicht weit, sagt Striessnig: „Wir wollen noch im Jahr 2021 feststellen können, ob die derzeit existierenden Medikamente sicher bei den Kindern angewendet werden können.“


Quelle:

FWF – Der Wissenschaftsfonds: https://scilog.fwf.ac.at

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