Psychosoziale Aspekte von Diabetes und Adipositas berücksichtigen: konkret wäre ein niederschwelliges fachpsychologisches Interventionsangebot hilfreich.
Diabetes mellitus und Adipositas stehen stellvertretend für chronische Erkrankungen, bei denen die Selbstbehandlung im Wesentlichen von den Fähigkeiten zum Selbstmanagement der Betroffenen abhängt. Aus diesem Grund kommt es darauf an, Störfaktoren, die diese Fähigkeit einschränken, zu vermeiden oder sie zeitnah zu identifizieren und die Patienten dabei zu unterstützen, sie zu überwinden. Hierzu sind psychosoziale Aspekte von Diabetes und Adipositas von Bedeutung.
Denn aufgrund des aktuellen Wissensstands bekommen psychische Komorbiditäten wie auch der Distress aufgrund von Erfahrungen einer Stigmatisierung und auch das Erleben von frustrierenden Therapieergebnissen eine zentrale Stellung in der Versorgung von Menschen mit chronischen Erkrankungen. Eine frühzeitige und niederschwellige Hilfe für Menschen mit Diabetes oder Adipositas kann helfen, eine Chronifizierung dieser Probleme wie auch deren körperliche Folgen abzuwenden.
Erfolge der Selbstbehandlung wahrnehmen
Diabetes und Adipositas sind beides Erkrankungen, bei denen die Betroffenen eine zeitnahe Rückmeldung über den Erfolg ihrer Selbstbehandlung zeitnah sehen. Und zwar auf der Waage, im Blutzuckermessgerät oder beim CGM (Continuous Glucose Monitoring).
Wenn Menschen mit Diabetes erleben, dass sie trotz ihrer vielen Bemühungen im Alltag nicht die Blutzuckerwerte erreichen, die sie angesteuert haben, können sie sich entmutigt fühlen und als Folge einige der für sie belastenden Schritte der aufwendigen Therapie im Alltag weglassen. Bei Adipositas ist der Zusammenhang zwischen den Bemühungen der Betroffenen und deren Gewicht aus verschiedenen Gründen nicht linear. Es kann zu einer frustrierenden Stagnation des Gewichtsverlaufs kommen.
Auf das wiederholte Scheitern der Selbstbehandlung können die Betroffenen mit Hilflosigkeit und Selbstvorwürfen reagieren, die ihre weiteren Bemühungen unterminieren.
Psychosoziale Aspekte berücksichtigen
Diabetes und Adipositas gehen beide mit einer erhöhten Rate an psychischen Komorbiditäten einher. Beim Diabetes können Essstörungen wie das Insulin-Purging (Diabulimie) und eine Binge-Eating-Störung den Stoffwechsel wie auch die Entwicklung von Diabetes bedingten Komplikationen negativ beeinflussen.
Menschen mit Diabetes entwickeln häufiger eine Depression und Menschen mit Depression entwickeln häufiger einen Diabetes als die nicht depressive Bevölkerung. Es liegt auf der Hand, dass depressive Menschen zumindest phasenweise mehr Schwierigkeiten haben werden, ihre Diabetestherapie optimal durchzuführen. Es fällt ihnen sehr schwer, sich zu motivieren, sich zu bewegen, ihr Appetit ist verändert.
Angststörungen können ebenfalls mit einer Verschlechterung des Stoffwechsels einhergehen. Beispielsweise kann die Angst vor Hypoglykämien dazu führen, dass der Blutzucker viel höher gehalten wird als empfohlen. Weiter reagieren die Betroffenen auf leichte oder vermeintliche Unterzuckerungsgefühle mit großen Mengen an Kohlenhydraten.
Zwanghaftes Messen
Bei einigen Menschen werden Messungen sehr häufig vorgenommen und darauf zu früh und zu oft reagiert, sodass der Blutzuckerverlauf manchmal sehr unübersichtlich wird. Das viele Messen kann zwanghafte Züge annehmen. Bei ausgeprägter Angst vor Folgeerkrankungen werden sehr niedrige Blutzuckerwerte angestrebt. Deutlich unter dem empfohlenen Range. Dadurch kommt es zu starken Schwankungen und wiederholten Hypoglykämien mit Fremdhilfe. Bei diesen psychischen Störungen ist eine Psychotherapie indiziert.
In den meisten Fällen, vor allem aber bei Insulin-Purging und den Stoffwechsel relevanten Angststörungen, ist eine Behandlung ohne Verständnis der Insulintherapie nicht möglich.
Weiterbildung zu Psychosozialen Aspekten bei Diabetes
Im Jahr 2017 hat die Bundespsychotherapeutenkammer die Muster-Weiterbildungsordnung für Psychologische Psychotherapeuten erweitert und dies ermöglicht nun den Länderkammern, die Weiterbildung „Psychotherapie bei Diabetes“ anzubieten.
Aktuell verfügen nur 65 Psychotherapeuten bundesweit über diese Bezeichnung. Es gibt bisher keinen finanziellen Anreiz für Psychotherapeuten, sich in der Psychodiabetologie weiterzubilden. Die stationären diabetologischen Einrichtungen in Deutschland, die den Nachwuchs in der Diabetologie bisher gesichert haben, werden reduziert. Diese Reduktion betrifft auch die Weiterbildungsplätze für den fachpsychologischen Nachwuchs.
Aktuell sind 200 Diabetesfachpsychologen von der DDG zertifiziert, die eine geeignete Beratung für Betroffene mit einem Diabetes bezogenen Distress anbieten könnten. Dieses Angebot ist aber zurzeit leider nur stationär verfügbar, wo nur ein Bruchteil der Menschen mit Diabetes versorgt werden kann.
Das aktuelle Vergütungssystem sieht nicht vor, dass Diabetes-Schwerpunktpraxen zeitnah ein niederschwelliges Beratungsangebot durch zertifizierte Diabetesfachpsychologen vorhalten können.
Unzureichende Behandlung der Adipositas
Warum eine Adipositas über Jahre besteht, obwohl die Betroffenen offensichtlich unter den Folgen leiden, ist sehr komplex und sehr individuell. Die Maßnahmen, die Therapeuten hierzu anbieten, sind oft nicht ausreichend, zu unspezifisch und zu kurzfristig angelegt.
Menschen mit Adipositas werden leider manchmal allein aufgrund ihres Phänotyps Interventionen wie einfache Programme zum Abnahmen von Gewicht empfohlen, auch wenn diese aufgrund ihrer mangelnden Individuierung nicht effektiv sein werden. Adipositas und psychische Erkrankungen treten häufig gemeinsam auf, was durch gemeinsame Ursachen und eine wechselseitige Verstärkung erklärbar ist.
Psychische Störungen wie Depression oder Binge-Eating-Störung, die eine Gewichtszunahme begünstigen können, werden oft nicht erkannt. Sie werden aus Schamgründen verschwiegen oder gar nicht erst angesprochen. Und zwar aus gut gemeinter Sorge, man würde den Patienten zu nahetreten. Dabei ist das Problem recht häufig und manchmal Folge der versuchten Gewichtskontrolle und der erlebten Stigmatisierung.
Wenn die Vorstellung herrscht, Adipositas sei (relativ leicht) beeinflussbar durch Verhaltensänderung und „ein bisschen Disziplin“, empfiehlt man den Betroffenen fragwürdige Maßnahmen. Die könnten dann der Komplexität der individuellen Situation nicht entsprechen. Dadurch ist das nächste Scheitern und eine weitere Verschlechterung der Selbstwirksamkeit sehr wahrscheinlich.
Selbststigmatisierung der Betroffenen vermeiden
Im Grunde genommen unterstützen Therapeuten damit die Selbststigmatisierung der Betroffenen. Sie erleben sich immer wieder als Versager. Sie müssen überlegen, wie sie dafür sorgen können, dass das medizinische Team ihnen noch wohl gesonnen bleibt, obwohl sie keine Erfolge melden können.
Eine psychotherapeutische Unterstützung (kognitive Verhaltenstherapie) kann effektiv sein, dieser Selbststigmatisierung und Hilflosigkeit entgegenzuwirken. Dies sollte man aber im Rahmen einer multimodalen Behandlung zur Gewichtsstabilisierung oder -reduktion anbieten.
Psychische Begleiterkrankungen berücksichtigen
Aktuell fehlt es oft im Praxisalltag an einem strukturierten Screening auf psychische Komorbiditäten vor weiteren Interventionen, die die Hilflosigkeit verstärken können. Auch müssen die Fachkräfte, die Menschen mit Adipositas behandeln, einen sensibilisierten Umgang mit stigmatisierten Menschen lernen. Je höher das Gewicht der Betroffenen, desto häufiger berichten sie über Diskriminierung aufgrund ihres Gewichts, auch im Gesundheitssystem.
In der Behandlung kommt es auch nicht nur auf Wissensvermittlung über Ernährung und Bewegung und Verhaltensmaßnahmen (kleinere Teller, Treppe statt Fahrstuhl) an, sondern auch auf die Emotionalität (Scham, Hilflosigkeit) der Krankheitserfahrung. Bei den beiden chronischen Erkrankungen Diabetes und Adipositas mangelt es an einer koordinierten Struktur, die die psychischen Aspekte wie auch deren Wechselwirkungen mit den medizinischen Faktoren (Pathophysiologie, medikamentöser Therapie) beurteilen und geeignete Interventionen anbieten kann.
Wenn wir weiter so tun, als wären chronische Erkrankungen nur Sache des Körpers und bestenfalls des rationalen Kopfes, werden wir der Realität der Betroffenen nicht gerecht. Konkret wäre ein niederschwelliges fachpsychologisches Interventionsangebot hilfreich, welches institutionell im DMP Diabetes und DMP Adipositas zu verankern wäre.
Quelle:
STATEMENT » Psychosoziale Aspekte von Diabetes und Adipositas: Wie steht es um den Versorgungsbedarf? « Susan Clever, Psychologin an der Diabetespraxis Hamburg-Blankenese. Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG), Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG). November 2021.


