Samstag, April 20, 2024

DGU: TraumaNetzwerk und TraumaRegister

TraumaNetzwerk DGU®, S3-Leitlinie Polytrauma, TraumaRegister DGU®, »Reha-Loch«, AltersTraumaZentrum DGU®, Medizinische Versorgung nach Terroranschlägen etc.

Laut Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) gab es 2014 insgesamt 9,77 Millionen Unfallverletzte. Die meisten dieser Unfälle passieren dabei in der Freizeit (3,89 Mio.) und im Haushalt (3,15 Mio.), gefolgt von Schul- und Arbeitsunfällen (1,34 Mio./1 Mio.) sowie Unfällen im Straßenverkehr (0,39 Mio.). Tödliche Verletzungen wurden im Jahr 2014 insgesamt 22 717 Mal verzeichnet. In der Konsequenz bedeutet dies für die Unfallchirurgie, dass einerseits eine breite und flächendeckende Behandlung von Unfällen aller Art – auch mit leichteren Verletzungen – gesichert sein muss, aber andererseits selbstverständlich auch eine hoch spezialisierte Behandlung lebensbedrohter Schwerstverletzter rund um die Uhr gewährleistet sein muss.

TraumaNetzwerk DGU® – eine weltweit einzigartige Versorgungsstruktur

Im TraumaRegister DGU® (TR-DGU) der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) wurden für 2015 über 30 000 verletzte Patienten dokumentiert. Sie wurden nach einem schweren Unfall über den Schockraum eines Traumazentrums eingeliefert und mussten intensivmedizinisch behandelt werden. Die aufwendige Behandlung dieser Verletzten erfolgt in einem gestuften Versorgungskonzept mit lokalen, regionalen und überregionalen Traumazentren. Dieses Konzept beziehungsweise die optimalen Bedingungen für die Versorgung von Schwerverletzten haben Unfallchirurgen im Weißbuch Schwerstverletztenversorgung 2006 erstmals definiert und im Rahmen der Qualitätsinitiative TraumaNetzwerk DGU® ab 2008 umgesetzt.

Damit sollten die unterschiedlichen Behandlungskonzepte und die Ausstattung an Personal, Geräten und medizinischem Zubehör in Deutschlands Unfallkliniken standardisiert werden. Ziel ist es, jedem Schwerverletzten an jedem Ort zu jeder Zeit bestmögliche Überlebenschancen zu bieten und auch außerhalb von Ballungszentren eine optimale Versorgung zu gewährleisten. Die Teilnahme der Kliniken an der Initiative führte zu Änderungen in deren Organisations- und Personalstrukturen:

Beispielsweise wurden Schockraumleitlinien etabliert, Dienstpläne hinsichtlich der Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeit eines kompetenten Notfallteams verändert oder Ärzte im Schockraummanagement geschult. In vielen Kliniken wurde zudem die Ausstattung optimiert: beispielsweise Röntgenanlagen und Ultraschallgeräte für den Notfall-Behandlungsraum nachgerüstet, teleradiologische Systeme eingeführt und die Bereitstellung von Instrumenten für Notfalloperation und Blutkonserven vorgenommen. Innerhalb von nur zehn Jahren ist der DGU damit die Etablierung einer bundesweit hochwertigen Schwerverletztenversorgung gelungen. Über 600 Traumazentren erfüllen die Qualitätsvorgaben der DGU.

Das Wesentliche am TraumaNetzwerk DGU® ist die Vernetzung der über 600 auditierten Kliniken zu regionalen Traumanetzwerken. So kommen im Schnitt auf ein überregionales Traumazentrum (ÜTZ) knapp zwei regionale Traumazentren (RTZ) und drei lokale Traumazentren (LTZ), sodass einerseits die breite Versorgung abgedeckt ist und andererseits die interne Verlegbarkeit und Kommunikation gesichert ist. Mittlerweile ist die gesamte Bundesrepublik flächendeckend mit über 50 regionalen Traumanetzwerken überzogen, teils existieren diese Netzwerke in Grenzregionen auch länderübergreifend (zum Beispiel in Kooperation mit den Niederlanden, der Schweiz und Österreich). Über Qualitätszirkel und in Kooperation mit den Rettungsleitstellen und den kommunalen ärztlichen Leitern der Rettungsdienste lebt und aktualisiert sich das System.

S3-Leitlinie Polytrauma: Was ist wann von wem zu tun?

Von besonderer Bedeutung bei der Schwerverletztenversorgung ist die S3-Leitlinie Polytrauma / Schwerverletzten-Behandlung. Die kürzlich erschienene 2. Auflage (2016) der über 400-seitigen Leitlinie dokumentiert aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse und gibt über 250 Empfehlungen zur Versorgung von Patienten mit einem Polytrauma – vom Unfallort über den Schockraum bis hin in den OP. Für die über 600 Traumazentren, die an der Initiative TraumaNetzwerk DGU® teilnehmen, gelten diese Empfehlungen. Sie haben dazu beigetragen, dass die Klinik-Sterblichkeit in den vergangenen 20 Jahren deutlich gesunken ist. Die Leitlinie wird derzeit ins Englische übersetzt. Sie wird von der European Society for Trauma & Emergency Surgery (ESTES) – der Europäischen Gesellschaft für Unfallchirurgie – als richtungsweisend angesehen. Dies beruht nicht zuletzt auf der umfassenden internationalen Literaturauswertung, die im Rahmen der Erstellung und Überarbeitung der Leitlinie erfolgt ist.

TraumaRegister DGU®: Grundlage für wissenschaftliche Analysen und Qualitätssicherung

Das TraumaRegister DGU® als Qualitäts- und Steuerungsinstrument belegt die qualitativ hervorragende Behandlung schwerstverletzter Patienten. Wissenschaftlich bietet das Register eine hervorragende Basis zur weiteren Verbesserung der Versorgung Schwerstverletzter. Aktuell werden jährlich etwa 20 Publikationen basierend auf Daten aus dem Register in internationalen Fachzeitschriften veröffentlicht – insgesamt sind es seit 1997 über 250. Mit mehr als 30 000 Fällen pro Jahr ist das TraumaRegister DGU® eines der weltweit größten klinischen Schwerverletztenregister.

Reha-Loch schließen: Gespräch mit den Kostenträgern suchen

Unfallchirurgen sehen sich in der Verantwortung, die Behandlung vom Unfallort bis hin zur Wiedereingliederung des Patienten ins soziale und berufliche Umfeld zu sichern. Während die Erstversorgung im Krankenhaus auf einem hohen Niveau stattfindet, ist eine Lücke derzeit aber offenbar: Mit Ausnahme der Schädelhirnverletzten und Arbeits- sowie Wegeunfällen existiert keine gute Anschlussfinanzierung zur Rehabilitation schwerverletzter Patienten nach dem primären Krankenhausaufenthalt. Diese Lücke muss geschlossen werden, um die soziale und berufliche Reintegration zu verbessern. Eine von der DGU geplante Datenerhebung zum sogenannten „Reha-Loch“ soll Unfallchirurgen nun dazu dienen, mit verschiedenen Kostenträgern das Gespräch und nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen.

AltersTraumaZentrum DGU® – Selbstständigkeit statt Pflegeheim

Die Altersentwicklung in Deutschland schreitet rasch voran und immer ältere Menschen mit multiplen Vorerkrankungen und zahlreichen Medikamenten stürzen oder verletzen sich. Diese Patienten sind aber in vielerlei Hinsicht nicht mit einem schwerstverletzten jungen Unfallopfer zu vergleichen. Meist liegen initial nur geringe Krafteinwirkungen vor, die dann aber bereits zu relevanten Verletzungen führen. Insbesondere sind hier Verletzungen am Hüftgelenk (Schenkelhalsfrakturen), aber auch Wirbelsäulenfrakturen oder Ober- und Unterarmbrüche zu nennen. Häufig kommt es im Rahmen der Einnahme „blutverdünnender“ Medikamente auch zu ausgedehnten Blutungen, wie zum Beispiel Hirnblutungen.

Die im Vergleich zum jüngeren Patienten deutlich erhöhte Rate an allgemeinen Komplikationen während des stationären Aufenthaltes (Lungenentzündungen, Herzinfarkt, Delir, erschwerte Mobilisation) darf keinesfalls unterschätzt werden und eine geriatrische Mitbehandlung verbessert den Outcome.

Um ältere Menschen nach einem Unfall optimal zu behandeln, hat die DGU Richtlinien erarbeitet und 2014 im Kriterienkatalog „AltersTraumaZentrum DGU®“ veröffentlicht. Im Zentrum steht ein multiprofessioneller Ansatz: Er stellt sicher, dass der Verletzte durch Unfallchirurgen und gleichzeitig auch von Geriatern (Altersmedizinern) betreut wird. Damit ist es möglich, die Patienten besser zu versorgen und Probleme im Heilungsverlauf zu vermeiden, sodass sie ihre Mobilität möglichst zügig und dauerhaft wiedererlangen können. Denn gerade bei geriatrischen Patienten ist die Mobilität ausschlaggebend für ihre Selbstständigkeit und damit auch für ihre Lebensqualität. Ziel der Unfallchirurgen ist es, die schlechte Prognose nach einem Sturz im hohen Alter zu verbessern.

Unfallkliniken, die die im Kriterienkatalog beschriebenen strukturellen und inhaltlichen Anforderungen erfüllen, können sich in Kooperation mit Geriatern als AltersTraumaZentrum DGU® zertifizieren lassen. Mittlerweile sind bereits 54 Alterstraumazentren eingerichtet. Über 100 Unfallkliniken haben die Zertifizierung derzeit beantragt. Auch die Daten der Alterstraumazentren werden erfasst und erlauben so neben einer Qualitätssicherung auch eine wissenschaftliche Auswertung und Weiterentwicklung.

Kindertraumatologische Kompetenz im TraumaNetzwerk DGU®

Innerhalb der Initiative TraumaNetzwerk DGU® macht die Versorgung schwerverletzter Patienten im Alter zwischen 0 und 16 Jahren einen Anteil von circa vier Prozent aus. So wurden im Jahr 2015 laut TraumaRegister-Jahresbericht über 1 000 Patienten dieser Altersgruppe im TR-DGU erfasst (BASISKollektiv). Dies benötigt besondere Kompetenz. Dazu hat die DGU bereits in der 2. Auflage des Weißbuches Schwerverletztenversorgung (2012) das „kindertraumatologische Referenzzentrum“ eingeführt: Danach gibt es in jedem zertifizierten TraumaNetzwerk DGU® eine Kooperation mit einem überregionalen Traumazentrum mit besonderer kindertraumatologischer Kompetenz. Darüber hinaus steht in der derzeit dritten Überarbeitung des Weißbuches auch die klarere Definition kindertraumatologischer Referenzzentren an. In Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie (DGKCH) sollen diese dann besser ausgewiesen werden.

Medizinische Versorgung nach Terroranschlägen: Kliniken müssen sich darauf einstellen

Die Bedrohung durch Terroranschläge stellt die deutsche Unfallchirurgie vor neue Herausforderungen: Zum einen unterscheiden sich Schuss- und Explosionsverletzungen durch die Energie und Blutungsgefahren von den bekannten zivilen Verletzungen deutlich. Zum anderen müssen Rettungsdienste und Klinikpersonal auf den Einsatz auf gefährlichen Terrains neu eingestellt werden:

  • Rettung unter Gefahrenlage
  • akute, präklinische Blutstillung (Tourniquet)
  • klinikinterne Ablaufübungen unter Akutbedingungen
  • erhöhte Infektionsgefahren und Anpassung der Therapieverfahren
  • Gefahr sekundärer Anschläge in Kliniken und Sicherheitsaspekte

Die DGU kümmert sich als erste medizinische Fachgesellschaft in Deutschland darum, dass das nötige Wissen zur medizinischen Versorgung von Terroropfern strukturiert zusammengetragen und nutzbar gemacht wird. Sie hat dazu im engen Schulterschluss mit dem Sanitätsdienst der Bundeswehr im September 2016 auf der ersten Notfallkonferenz der DGU einen 5-Punkte-Plan vorgelegt – siehe Anlage.

Ende Februar konnten wir sehr erfolgreich den Inhaltspunkt „Regionale Informationstage“ abschließen. Durch unsere Netzwerkstruktur ist es uns gelungen, die Problematik hervorzuheben und das Spezialwissen an die über 50 regionalen Traumanetzwerke in die Fläche zu bringen. Aktuell entwickelt unsere DGU-Tochtergesellschaft – die AUC/Akademie der Unfallchirurgie GmbH – gemeinsam mit der Bundeswehr ein neues Kursformat: „Terror and Disaster Surgical Care“ (TDSC). Der erste Kurs findet im Vorfeld der 2. Notfallkonferenz der DGU (20. Mai 2017) in Frankfurt statt.

Anpassung der Strukturen verursacht Kosten

Aus all diesen Überlegungen heraus ist die DGU über die Initiative TraumaNetzwerk DGU®, die zivilmilitärische Zusammenarbeit mit der Bundeswehr und ihre AUC/Akademie der Unfallchirurgie grundsätzlich gut auf die aktuellen Entwicklungen vorbereitet. Es bedarf jedoch auch der politischen und wirtschaftlichen Unterstützung, da solche Anstrengungen nicht durch eine Fachgesellschaft alleine gestemmt werden können.

So ist die Fixierung des dreistufigen TraumaNetzwerk-Systems der DGU in der vom Gemeinsamen Bundesausschuss geplanten Neuordnung der Notfallversorgung von eminenter Bedeutung (gestuftes System von Notfallstrukturen in Krankenhäusern gemäß Paragraf 136c Absatz 4 Sozialgesetzbuch (SGB) V). Ergänzend notwendig sind aktuell auch noch Regelungen zu:

  • Vorhaltekosten für Katastrophenversorgung, die aktuell nicht geklärt sind. Hoch spezialisierte Traumazentren müssen dazu – und zwar nicht auf Fallzahlen basiert – 24 Stunden und 365 Tage durchfinanziert werden.
  • Finanzierung von Planübungen
  • Integration der klinischen Versorgung und taktischen Chirurgie in behördliche Planungen, Gesetze und Finanzierung
  • Diskussion um polizeilichen Schutz der Kliniken ist notwendig.
Professor Dr. Ingo Marzi
Professor Dr. Ingo Marzi

Quelle:

Statement » Traumanetzwerke – eine Erfolgsgeschichte mit immer neuen Herausforderungen « von Professor Dr. med. Ingo Marzi, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) sowie der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU); Direktor der Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie am Universitätsklinikum Frankfurt/Main

Weitere Informationen unter www.dgu-online.de:

1) DGU-Pressemitteilung vom 18.01.2017: Terrorgefahr: Mediziner fordern Ausstattung von Rettungswagen mit Tourniquets.

2) 5-Punkte-Plan der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie http://www.dgu-online.de/fileadmin/published_content/2.Aktuelles/Presse/PDF/2016_5_Punkte_Plan_Website_Pressemappe_F.pdf

3) DGU-Pressemitteilung vom 27.09.2016: Terrorgefahr in Deutschland: Unfallchirurgen ergreifen Maßnahmen für den Ernstfall.

4) DGU-Pressemitteilung vom 6.9.2016: Jahresbericht: TraumaRegister DGU® erfasst über 30.000 Schwerverletzte 2015.

5) DGU-Pressemitteilung vom 21.01.2016: AltersTraumaRegister DGU® geht an den Start.

6) Pressemitteilung vom 29.9.2015: Unfallchirurgen spannen Notfallnetz über ganz Deutschland.

… und unter folgenden Websites:

1) TraumaNetzwerk DGU http://www.traumanetzwerk-dgu.de/de/startseite_tnw.html

2) AltersTraumaZentrum http://www.alterstraumazentrum-dgu.de/de/startseite_atz.html

3) TraumaRegister DGU http://www.traumaregister-dgu.de/de/startseite_tr.html

4) Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin – Unfallstatistik 2014 http://www.baua.de/de/Informationen-fuer-die-Praxis/Statistiken/Unfaelle/Gesamtunfallgeschehen/Gesamtunfallgeschehen.html

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