Freitag, März 29, 2024

Wirbelsäulenchirurgie – Individuelle Therapieentscheidungen

Gestiegene Operationszahlen zur Wirbelsäulenchirurgie lässt sich durch erfolgreiche chirurgische Arbeit und verbesserte Evidenz zur operativen Therapie begründen.

Die Wirbelsäulenchirurgie steht in der Kritik. Die Hauptkritikpunkte sind, dass nicht nur generell zu viel operiert wird, sondern auch, dass überwiegend finanzielle Vorteile das Handeln von Kliniken und Wirbelsäulenchirurgen bestimmen. Dieses medial befeuerte Meinungsbild ist mittlerweile weitverbreitet und treibt Blüten. Nicht nur, dass es das tägliche Patientengespräch des Wirbelsäulenchirurgen bestimmt, sondern es sorgt sogar dafür, dass Patienten mit Tumorerkrankungen potenziell lebensverlängernde Wirbelsäulenoperationen ablehnen, weil die „Presse“ des Wirbelsäulenchirurgen so schlecht ist.

Blick auf die Realität der Wirbelsäulenchirurgie

Lassen Sie uns einen Blick auf die Realität werfen: Der Anstieg der Operationszahlen im Bereich der Wirbelsäulenchirurgie lässt sich gut erklären: So ist er einerseits durch die hervorragende und erfolgreiche chirurgische Arbeit der orthopädischen und unfallchirurgischen Kollegen und die verbesserte Evidenz zur operativen Therapie, speziell bei degenerativen Wirbelsäulenerkrankungen, begründet. Andererseits führen ein demografischer Wandel mit Verschiebung der Bevölkerungspyramide hin zu älteren, aber noch relativ gesunden Patienten sowie eine erhöhte Anspruchshaltung all unserer Patienten zu steigenden Operationszahlen.

Konservative Therapieoptionen sind zudem finanziell deutlich eingeschränkt und regelhaft „ausgereizt“. Zudem ist die Evolution operativer Techniken und neuer diagnostischer Methoden (zum Beispiel Upright-MRT, SPECT) in der noch recht jungen Wirbelsäulenchirurgie derzeit besonders rasant. Schließlich rücken auch Krankheitsbilder (zum Beispiel Sakruminsuffizienzfraktur) in den Fokus, die noch vor zehn Jahren nahezu unbekannt waren. Die zunehmend tendenziös eingesetzten und teilweise bewusst übertriebenen Operationszahlen, die das Gegenteil suggerieren wollen, können einer detaillierten Prüfung dagegen nicht standhalten. Nachdem die OECD-Studie 2013 für die Schlagzeile „Deutschland OP-Weltmeister“ sorgte, nahm kaum jemand Notiz davon, dass eben diese Zahlen nochmals altersadjustiert analysiert wurden (Deutsches Ärzteblatt 2015, Heft 10): Als weltweit zweitälteste Gesellschaft landete Deutschland dann nur noch im durchschnittlichen Mittelfeld der westlichen Nationen.

Die Krankenkassen profilieren sich trotzdem immer noch gerne durch Pressemitteilungen, zum Beispiel über die Nicht-Notwendigkeit von Zweitoperationen nach Wirbelsäuleneingriffen. Ganz besonders wird darüber geklagt, dass die „leidinduzierenden“ Wirbelsäulenversteifungen nach vorangegangenen Wirbelsäulenoperationen kontinuierlich ansteigen würden. Die Wirbelsäule ist kein Appendix! Einen Appendix gibt es regelhaft nur einmal und wenn er entfernt ist, ist das Problem gelöst. Dennoch liegt die Revisionsrate bei Appendektomien bei circa drei bis fünf Prozent. Die 24 Bewegungssegmente beinhaltende Wirbelsäule wird in der Regel nicht entfernt. Bei einer osteoporotischen Wirbelkörperfraktur, unabhängig davon, ob sie operiert wird oder nicht, besteht eine 30- bis 50-prozentige Wahrscheinlichkeit für eine weitere Fraktur innerhalb eines Jahres. Ein Bandscheibenvorfall ist in der Regel der Beginn und nicht der Endzustand einer Degeneration. Bei Bandscheibenvorfällen liegt die operative Revisionsrate auch bei circa drei bis fünf Prozent und eine aus einem Bandscheibenvorfall resultierende Segmentdegeneration, mit oder ohne Operation, ist die Regel. Anschlusssegmentdegenerationen als Folge der voranschreitenden Degeneration, mit oder ohne Operation, treten ebenfalls mit einer Wahrscheinlichkeit von zwei bis drei Prozent pro Jahr auf. Das heißt, dass nicht die suggerierte „schlechte Chirurgie“ und die unnötigen Operationen, sondern die dem Patienten zugrunde liegende Pathologie häufig im Verlauf weitere Eingriffe erfordert. Wenn ein Patient eine derart schwierige Wirbelsäulenerkrankung aufweist, dass sogar eine operative Therapie erforderlich ist, ist es nicht verwunderlich, dass das Fortschreiten der Grunderkrankung zu weiteren Eingriffen im Verlauf führt. Wenn man davon ausgeht, dass Krankenkassen, die mit viel ärztlichem Personal im Medizinischen Dienst der Krankenkassen arbeiten, über diese medizinischen Grundkenntnisse verfügen, so ist als Erklärung für derart aufmerksamkeitserheischende Pressemitteilungen nur die unlautere Meinungsmache wahrscheinlich.

Die konservative Therapie von degenerativen Wirbelsäulenerkrankungen im niedergelassenen orthopädischen / unfallchirurgischen Bereich ist dramatisch und chronisch unterfinanziert. Es wundert daher nicht, dass sich bei derartig finanziell beschränkten konservativen Therapieoptionen, der eine oder andere Patient eine operative Therapie ersehnt und ein Wirbelsäulenchirurg aufgrund mangelnder Alternativen ihm diese auch anbietet. Um die „Flucht der Patienten nach vorne“ zu verhindern, ist es wichtig, die konservative Therapie zu stärken! Dafür sind nicht nur eine Reform des Honorierungssystems und eine adäquate Honorierung der konservativen Therapie im ambulanten und (!) stationären Bereich zwingend erforderlich, sondern auch eine umfassende „konservative Ausbildung“ der zukünftigen Wirbelsäulenchirurgen. Diese ist in der Weiterbildung zum Facharzt Orthopädie und Unfallchirurgie derzeit bereits intrinsisch beinhaltet. Die konservative Behandlung des akuten und chronischen Rückenschmerzes ist Stammland der „klassischen“ Orthopädie. Ohne ausgewiesene Erfahrung und Expertise in der konservativen Behandlung des Rückenschmerzes sollte es keine OP-Indikation geben.

Die operative Therapie bei Traumata, Tumoren, Infektionen und Deformitäten der Wirbelsäule sowie bei neurologischer Ausfallssymptomatik ist typischerweise unstrittig. Aber auch bei degenerativen Spondylolisthesen, Spinalkanalstenosen und Bandscheibenvorfällen ist die operative Therapie der konservativen Therapie signifikant überlegen. Eine Begründung für diese Aussage findet sich in den Ergebnissen der größten prospektiv randomisierten Untersuchung (Spine Patient Outcomes Research Trial – SPORT), die mit dem Sponsoring und unter der Kontrolle staatlicher Gesundheitsinstitutionen in den USA durchgeführt wurde. In der Untersuchung, die seit einer Dekade läuft und deren Ergebnisse bereits vielfach preisgekrönt und hochrangig publiziert sind, zeigen sich über einen bisherigen Beobachtungszeitraum von acht Jahren konstant besser klinische Ergebnisse für operierte Patienten. Die operative Therapie gerade auch bei degenerativen Wirbelsäulenerkrankungen ist ein Segen für unsere Patienten. Diese Evidenzlage muss zum Wohle unserer Patienten aktiv kommuniziert und auch umgesetzt werden. Die Patienten müssen über diese Evidenzlage aufgeklärt und an den jeweiligen Entscheidungsfindungen beteiligt werden.

Eine Zweitmeinung zur Operationsindikationsstellung hat trotz erwiesener Effektivität der Wirbelsäulenchirurgie bei elektiven Operationen aber durchaus eine Berechtigung. Sie kann jedoch nicht als „conditio sine qua non“ für unsere Patienten gefordert werden. Außerdem muss ein Patient, bei dem eine Wirbelsäulenoperation indiziert wurde – wenn vom Patienten gewünscht –, von einem fachkundigen Arzt klinisch reevaluiert werden. Ein Arzt, der keine orthopädische oder unfall-/neurochirurgische Erfahrung besitzt und dessen berufliche Expertise ausschließlich in einem „wirbelsäulen-fachfremden“ konservativen Therapieansatz begründet ist, ist dazu nicht in der Lage. Fachspezifische Zweitmeinungen für wirbelsäulenchirurgische Fragestellungen können daher nur durch fachkundige konservativ oder operativ tätige Orthopäden, Unfallchirurgen und Neurochirurgen erbracht werden. Fachspezifische Zweitmeinungsportale, zum Beispiel der DWG, existieren bereits. Auch die Kostenträger müssen in ihrem eigenen Interesse dafür Sorge tragen, dass diese vermehrt genutzt werden. Zielsetzung sollte hier nicht die Verhinderung von Operationen sein, sondern die Auswahl des optimalen Therapieverfahrens.

Die Dokumentation von Qualität in der Medizin gewinnt zunehmend an Bedeutung. Privatwirtschaftliche Verlage haben dies erkannt und feiern mit Sonderheften, die unterschiedlichste Ärztelisten enthalten, Verkaufsrekorde. Zahlreiche, deutlich höherwertige Qualitätssicherungsmaßnahmen wurden auch von den Fachgesellschaften initiiert. Diese treten aber in der Öffentlichkeit kaum zutage. Im Bereich der Wirbelsäulenchirurgie wurden neben den existierenden Zweitmeinungsportalen sowohl personenspezifische als auch zentrenspezifische Qualitätsmaßnahmen von den Fachgesellschaften etabliert oder befinden sich in der fortgeschrittenen Testphase. Es ist von entscheidender Bedeutung, diese qualitätssichernden und optimierenden Maßnahmen zu fördern und auch öffentlichkeitswirksam zu machen. Einzig durch die verpflichtende Dokumentation und durch die allgemein verfügbare Transparenz von Qualität kann verhindert werden, dass Patienten an den „Falschen“ geraten.

Professor Dr. med. Frank Kandziora
Professor Dr. med. Frank Kandziora

Quelle:

Statement »Wann ist die OP sinnvoll? Individuelle Therapieentscheidungen in der Wirbelsäulenchirurgie« von Professor Dr. med. Frank Kandziora, Vorsitzender der Sektion Wirbelsäule der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU), Vice-President der European Spine Society (EUROSPINE), Chefarzt am Zentrum für Wirbelsäulenchirurgie und Neurotraumatologie,  Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik Frankfurt am Main anlässlich des Deutschen Kongresses für Orthopädie und Unfallchirurgie (DKOU), Oktober 2016.

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