Freitag, April 19, 2024

Selfish-Brain-Theorie – wie Übergewicht und Adipositas entsteht

Wer glaubt, selbst an Übergewicht oder Adipositas schuld zu sein, dem widerspricht die Selfish-Brain-Theorie: Der Energiestoffwechsel im Gehirn soll dafür verantwortlich sein.

Die Selfish-Brain-Theorie des Lübecker Wissenschaftlers Achim Peters stellt den Energiestoffwechsel des Gehirns in den Mittelpunkt, dabei sollen Störungen in diesem Energiestoffwechsel des Gehirns Adipositas und Übergewicht verursachen. Die Selfish-Brain-Theorie beschreibt dabei das eigensüchtige Verhalten des ­Gehirns als Faktor der Adipositas-Entstehung. Direkte Messungen von energiereichen Substanzen im Gehirn und im Körper zeigen verblüffende Effekte, die das Konzept unterstützen.



 

Die Selfish-Brain-Theorie

Das Gehirn versorgt zuerst mal sich selbst mit Energie, die Regulation des Körpergewichts steht erst an zweiter Stelle. Kommt es zu Störungen der Informationsverarbeitung innerhalb des Gehirns, kann dies eine erhebliche Wirkung auf das Körpergewicht haben.

So soll in den Hemisphären des Gehirns aufgrund eintreffender metabolischer, kognitiver und sensorischer Informationen – wie z.B. Energiemangel oder dem Geruch von Speisen – ein Energie-Anforderungs-Signal einsetzen. Dieses Signal wird von Amygdala und Hippocampus in zwei Komponenten – dem allokativen oder ingestiven Signal – zerlegt, welche verschiedene Anteile der Verhaltenskontrolle (Nahrungsaufnahme, Sozial­verhalten oder Nahrungssuche) aktivieren.

Im gesunden Organismus herrscht bei zentralem Glucose-Abfall allokatives Verhalten: Das Energie-Anforderungs-Signal führt zu einer veränderten Allokation, also veränderten Verteilung der Energieressourcen (Glucose) zwischen Gehirn und Peripherie.

 

Aktivierung von Stresssystemen

Das Energie-Anforderungs-Signal führt zur Aktivierung von Stresssystemen des Gehirns, also des sympathischen Nervensystem und des Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-System. Diese Stresssysteme begünstigen den Glukose-Transport über die Blut-Hirn-Schranke (GLUT1), hemmen jedoch die Glukose-Aufnahme in periphere Organe (GLUT4).

Folglich lenken die Stresssysteme Glukose bevorzugt zum Gehirn um. Bei Übergewicht oder Adipositas herrscht verstärktes ingestives Verhalten: Bei unzureichender Allokation von Glukose zum Gehirn, z.B. durch Störung des allokativen Signals in Amygdala oder Hippocampus, muss das Gehirn seine Strategie der Energieversorgung ändern, um seinen Energiebedarf zu decken.

Die zerebralen Hemisphären kompensieren eine derartige Schwäche der allokativen Energie-Anforderung, indem sie das ingestive Anforderungs-Signal verstärken und damit die Nahrungsaufnahme fördern – als Konsequenz entwickelt sich Übergewicht oder Adipositas.

 

Neuartige Therapieoptionen

Das Verhalten könnte ein Schlüssel zu einer neuartigen Therapie zu sein. Wenn es nämlich nachhaltig verändert werden kann. Als Beispiel dient der bei adipösen Patienten beobachtete Zusammenhang zwischen der Vermeidung von Konflikten und dem Konsum von Süßigkeiten.

Das defensive Verhalten und die direkte Zufuhr von Glukose verhindern, dass das Stresssystem richtig arbeitet und Glukose allokiert wird. Helfen könne hier eine umfassende Verhaltenstherapie, die die Vielfalt sozialer Interaktionsmöglichkeiten auch in Stressituationen reaktiviert.

Die Möglichkeit dazu gibt die Plastizität und Lernfähigkeit des Gehirns selbst. Andernfalls wird für die Betroffenen Essen, ohne hungrig zu sein, die monotone Antwort auf jedes Problem.

 

Adipositas-Spezialist Achim Peters entwickelte die Selfish-Brain-Theorie

Die Selfish-Brain-Theorie wurde 2004 veröffentlicht und hat seitdem international in der Adipositas-Forschung, den Neurowissenschaften und der Diabetologie hohe Akzeptanz gefunden.

Adipositas-Spezialist Professor Dr. med. Achim Peters – Hirnforscher, Internist und Diabetologe –entwickelte die Selfish-Brain-Theorie. Er leitet seit 2004 die klinische Forschergruppe „Selfish Brain: Gehirnglukose und metabolisches Syndrom“ an der Universität Lübeck – von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.




Literatur:

Achim Peters, Britta Kubera, Christian Hubold, Dirk Langemann. The Selfish Brain: Stress and Eating Behavior. Front Neurosci. 2011; 5: 74. Published online 2011 May 30. doi: 10.3389/fnins.2011.00074


Quellen:

Selfish-Brain-Theorie – www.selfish-brain.orghttp://www.achim-peters.de/

 

http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3105244/

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