Donnerstag, März 28, 2024

Adipositas und die Darm-Gehirn-Achse

Mangelnde Bewegung, falsche Nahrungs- und Essgewohnheiten und ein – bisher wenig untersuchtes – Suchtverhalten bleiben die wichtigsten Ursachen für die Adipositas.

Adipositas oder Fettsucht hat sich zu einer „weltweiten Epidemie“ oder besser Pandemie entwickelt. Mittlerweile sind weltweit hiervon 700 Millionen Menschen betroffen. Dies entspricht aktuell bei einer gesamten Weltbevölkerung von 7,4 Milliarden Menschen einem Prozentsatz von knapp zehn Prozent und rasant steigender Tendenz. Dagegen ist in unserem Land schon fast ein Viertel unserer Bevölkerung von der Fettsucht betroffen. Die besagten 25 Prozent unserer deutschen Bevölkerung haben mittlerweile einen sogenannten Body-Mass-Index (BMI) von mehr als 30 (Körpermasse in Kilogramm [kg]/Körpergröße in Metern2 [m2])! Dies bedeutet, dass zum Beispiel ein 180 Zentimeter großer, 40-jähriger Mann 97 Kilogramm oder eine 165 Zentimeter große 40-jährige Frau 82 Kilogramm wiegen muss, um diesen BMI-Wert zu erreichen. Somit Werte, die wir allgemein für uns selbst als nicht vertretbar betrachten.

Zunehmen ist leichter als abnehmen. Woran liegt diese Tatsache? Beispiel: Um das Gewicht eines 150 Kilogramm schweren, 180 Zentimeter großen 60-jährigen Mannes auf 90 Kilogramm zu reduzieren, benötigt er bei einer Nulldiät (!!!) und einem durchschnittlichen täglichen Grundenergieverbrauch von 2 110 kcal etwa 213 Tage!! Umgekehrt kann er sich problemlos vor allem mit fett- und kohlenhydrathaltiger Nahrung bis zu 7 000 Kalorien täglich zuführen. In welchem Umfang man hierbei zunimmt, variiert individuell jedoch erheblich und ist nicht allein mit dem täglichen Grund- und Leistungsumsatz zu erklären. Einen BMI über 40 kg/m2 weisen schon mehr als zwei Prozent aller Deutschen auf. In anderen Worten, um diesen Wert zu erreichen, müssten ein 180 Zentimeter großer, 40-jähriger Mann und eine 165 Zentimeter große, gleichaltrige Frau mehr als 130 Kilogramm beziehungsweise 110 Kilogramm wiegen!

 

Die Darm-Gehirn-Achse

Liebe geht durch den Magen, der Ärger ist auf den Magen geschlagen, man isst auch mit den Augen, mir läuft das Wasser im Munde zusammen – diese Sprichwörter kennt jeder und wahrscheinlich hat fast jeder schon seine eigenen Erfahrungen mit diesen Sprichwörtern gemacht. Auch die Aussage, man habe „Schiss“ vor einer Prüfung, verdeutlicht, dass unsere Seele, unser Geist mit dem Magen-Darm-Trakt in enger Verbindung und Kommunikation steht, somit eine Achse zwischen Kopf und Bauch – Darm-Gehirn-Achse – beziehungsweise Gehirn und Magen-Darm-Trakt besteht.

 

Gefühle beeinflussen unser Hungergefühl

Frisch verliebt, mit Schmetterlingen im Bauch hat man keinen Hunger. Ähnliches gilt häufig auch, wenn man sich geärgert hat (es hat mir den Appetit verschlagen). Umgekehrt gibt es zur Stressbewältigung auch die „Kummer- oder Frustesser und -trinker“, die sich zum Beispiel nach der Trennung einer Beziehung mit vermehrter Aufnahme flüssiger und fester Nahrung „belohnen“. Hiermit verbunden kommt es unvermeidlich zu einer gesteigerten Kalorienaufnahme, die in der Summe den notwendigen täglichen Kalorienbedarf übersteigt, und damit zu einer unvermeidlichen Zunahme des Körpergewichts oder BMI.

 

Regulation von Hunger und Sättigung bei Fettsucht

Im deutschsprachigen Raum existieren nur die drei Begriffe Hunger, Appetit und Sättigung. Während Hunger eine Empfindung in der Magenregion beinhaltet, Nahrung aufzunehmen, beinhaltet Appetit den gleichen Wunsch jedoch in Abwesenheit von Hunger. Dagegen existiert im angelsächsischen Sprachgebrauch zusätzlich eine Unterteilung von Sättigung in die Begriffe „satiation“ und „satiety“. „Satiation“ beinhaltet den Zeitpunkt der Beendigung der Mahlzeit aufgrund von innerer Befriedigung und eventuell auch Völlegefühl. „Satiety“ führt zu einem späteren Beginn der nächsten Mahlzeit, nachdem eine Mahlzeit beendet wurde. Beide zusammen tragen zur Beendigung der Mahlzeit dazu bei, dass nicht sofort die nächste Mahlzeit eingenommen wird. Um diese unterschiedlichen Empfindungen messbar zu machen, ist heute – wissenschaftlich betrachtet – eine Strukturierung der Nahrungsaufnahme – also Mahlzeitgröße, -dauer, Essgeschwindigkeit und Intervall zwischen den Mahlzeiten – sowohl tierexperimentell wie auch in Untersuchungen am Menschen geltender Standard.

Wesentliche Ursachen für die rasant zunehmende Adipositas/Fettsucht sind eine Reihe unterschiedlicher Faktoren, die in ihrer Bedeutung priorisiert an erster Stelle veränderte Nahrungs- und Essgewohnheiten, an zweiter Stelle zunehmender Bewegungsmangel und an dritter Stelle psychische Auslöser sind. Nur sehr selten sind endokrine Störungen beziehungsweise genetisch bedingte Störungen vor allem für eine maligne Adipositas mit einem BMI von über 40 zu nennen.

 

Einfluss der Hormone

Wissenschaftliche Untersuchungen am Menschen und an Tieren, vor allem Mäusen, haben gezeigt, dass eine Reihe unterschiedlicher Hormone unsere Hunger-/Sättigungsgefühle beeinflussen. Diese beinhalten Hormone, die in Hunger- und Sättigungsphasen ansteigen oder abfallen. Diese Hormone werden im Magen-Darm-Bereich wie auch in Einzelfällen in der Bauchspeicheldrüse produziert und üben nach ihrer Freisetzung ihre Wirkung unterschiedlich sowohl auf die Aktivität von Magen/Darm sowie Gallenblase und Bauchspeicheldrüse aus. Zusätzlich haben diese eine entscheidende Bedeutung für unser Hunger-/Sättigungszentrum im Gehirn.

Das Hormon Ghrelin wird zum Beispiel im Magen produziert und stimuliert die Nahrungsaufnahme über Aktivierung des Hungerzentrums. Mit der Sättigung nimmt das Hormon im Blut ab. Aktuell bemühen sich zahlreiche pharmazeutischer Unternehmen darum, eine Substanz zu entwickeln, die die Wirkung von Ghrelin blockieren könnte. Denn diese sollte die Hunger- und Appetitempfindung adipöser Patienten unterdrücken können. Ähnliches gilt für die Blockade des Hormons Cholecystokinin (CCK), das im Tierexperiment genetisch ausgeschaltet zu einer deutlichen Gewichtsreduktion führt. Der postulierte Wirkmechanismus beinhaltet im Darm eine verminderte Fettaufnahme, verbunden mit einem gesteigerten Energieverbrauch und damit einem Gewichtsverlust. Tierexperimentelle Untersuchungen lassen vermuten, dass auch das Mikrobiom im Darm unser Körpergewicht beeinflusst.

So zeigte im Juni diesen Jahres eine aktuelle Publikation in der Zeitschrift „Nature“, dass Darmbakterien überfütterter Mäuse eine Säure, Acetat, im Darm produzieren, die ins Blut freigesetzt, eine vermehrte Freisetzung der Hormone Insulin, Gastrin und Ghrelin zur Folge hat, die über das zentrale Nervensystem gezielt Signale vermitteln, über den sogenannten Vagusnerv vom Gehirn in den Magen-Darm-Trakt weiterleiten und damit das Bedürfnis nach Nahrungsaufnahme unterhalten. Interessanterweise konnte diese Wirkung mit der Gabe von Antibiotika wieder aufgelöst beziehungsweise verringert werden.

 

Fazit

Zusammenfassend zeigen diese Daten, dass uns auf der einen Seite zunehmend molekulare Erklärungen über die Steuerungsmechanismen der Gewichtszu- und -abnahme vorliegen. Auf der anderen Seite aber mangelnde Bewegung, falsche Nahrungs- und Essgewohnheiten und ein – bisher wenig untersuchtes – Suchtverhalten die hauptsächlichen Ursachen für die Adipositas bleiben.


Literatur:

Hussain SS, Bloom SR (May 2013). The regulation of food intake by the gut-brain axis: Implications on obesity. Int. J. Obesity 37: 625-633.

Perry RJ, Peng L, Barry NA, Shulman GI et al. (June 2016). Acetate mediates a microbiome-brain-beta-cell axis to promote metabolic syndrome. Nature 534: 213-217.

Mensink GBM, Schienkiewitz A, Haftenberger M et al. Übergewicht und Adipositas in Deutschland: Ergebnisse der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DGES1). Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 2013; 56: 786-794.

Ng M, Fleming T, Robinson M et al. (2014). Global, regional, and national prevalence of overweight and obesity in children and adults during 1980–2013. A systemic analysis for the Global Burden of Disease Study 2013. Lancet 384(9945): 766-781.


Quelle:

Statement »Adipositas: Wie funktioniert die Interaktion zwischen Darm und Gehirn (Gut-Brain-Axis)?«. Professor Dr. med. Bertram Wiedenmann, Kongresspräsident DGVS, Direktor der Medizinischen Klinik mit Schwerpunkt Gastroenterologie und Hepatologie, Charité Universitätsmedizin Berlin (CCM, CVK). Viszeralmedizin 2016 – der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS), und der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie (DGAV).

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