Samstag, April 20, 2024

Choosing Wisely – in der Medizin gemeinsam klug entscheiden

Die Initiative Choosing Wisely in der Medizin beschreibt den offenen Dialog zwischen Ärzten und Patienten, um unnötige Leistungen herauszufinden.

Unter Choosing Wisely versteht man eine vor fünf Jahren in den USA ins Leben gerufene Initiative, die den offenen Dialog zwischen Ärzten und Patienten über unnötige Leistungen sucht. Für diese Gespräche wurden sogenannte Top-5-Listen erstellt. Diese Listen benennen fünf medizinische Maßnahmen, bei denen eine Überversorgung besteht und für die es einen verstärkten Bedarf nach einer gemeinsamen Entscheidungsfindung gibt, dem Shared Decision Making (zu Deutsch: der partizipativen Entscheidungsfindung).



Der Begriff Überversorgung bezeichnet medizinische Leistungen, die entweder nicht indiziert sind, also nicht nötig sind, oder deren Nutzen in evidenzbasierten Studien nicht hinreichend belegt worden ist. In den USA sind diese Top-5-Listen breit gestreut worden und bilden eine Diskussionsgrundlage für Patienten und Ärzte. Unterversorgung ist beim Choosing Wisely in den USA kein Thema.

 

Choosing Wisely-Empfehlungen

Die American Association of Orthopedic Surgeons (AAOS) hat 2013 eine Liste mit fünf Choosing Wisely-Empfehlungen veröffentlicht. Die erste Empfehlung lautet zum Beispiel, dass bei Patienten mit elektiver Hüft-TEP (Totalendoprothese) kein routinemäßiger postoperativer Ultraschall auf tiefe Venenthrombose gemacht werden soll.

 

Was haben Choosing Wisely und Shared Decision Making miteinander zu tun?

Viele Patienten wollen nicht mehr, dass über ihren Kopf hinweg entschieden wird, weil sie mit den Folgen der Entscheidungen leben müssen. Partizipative Entscheidungsfindung ist ein Gespräch auf Augenhöhe. Arzt und Patient entscheiden gemeinsam über die anstehenden Untersuchungen und Behandlungen, die dann auch gemeinsam verantwortet werden. Der Arzt ist Experte für das medizinische Wissen und der Patient ist Experte für seine persönlichen Lebensumstände, seine Werte und seine Präferenzen. In Deutschland ist der informierte Patient auch politisch gewollt.

 

Was ist Klug entscheiden?

Klug entscheiden ist das deutsche Pendant zu Choosing Wisely. Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) und die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) haben sich das Anliegen des amerikanischen Choosing Wisely rasch zu eigen gemacht. Bei den von der DGIM inzwischen formulierten „Klug entscheiden“-Empfehlungen (KEE) steht allerdings nicht die partizipative Entscheidungsfindung im Vordergrund, sondern die Verbesserung der Indikationsqualität. Was nützt eine perfekt durchgeführte medizinische Maßnahme, wenn die Indikation nicht stimmt! Die von den Krankenkassen und der Politik hochgehaltene Versorgungsqualität ist nach Ansicht der DGIM also nicht alles. Auch die Indikationsqualität muss stimmen.

 

Was ist bisher in Deutschland passiert?

Die Internisten der DGIM haben bereits 120 sogenannte Klug entscheiden-Empfehlungen formuliert und konsentiert und im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht. Negativempfehlungen benennen diagnostische und therapeutische Maßnahmen, die zwar häufig verordnet und erbracht werden, die aber nachweislich keinen Nutzen haben.

Positivempfehlungen beziehen sich auf Maßnahmen, die häufig unterlassen werden, deren Nutzen aber durch Studien belegt ist. Auch andere Fachgesellschaften haben das Thema aufgenommen und auch die Bundesärztekammer hat sich in einem Workshop mit der Thematik auseinandergesetzt.

Choosig wisely / Gemeinsam klug entscheiden ist also in Deutschland angekommen und auch Orthopäden und Unfallchirurgen haben angefangen, das in ihren Gremien zu diskutieren, wie auch die Aufnahme in das Programm des diesjährigen DKOU zeigt.

 

Wie steht die deutsche Ärzteschaft zu der Initiative?

Der 119. Deutsche Ärztetag hat sich Ende Mai 2016 in Hamburg hinter die Initiative gestellt. Eine evidenzbasierte, sichere und effiziente Patientenversorgung gehöre zu den zentralen Anliegen der Ärzteschaft, heißt es in dem Beschlussprotokoll. Allerdings müsse die den Klug entscheiden-Empfehlungen (KEE) zugrunde liegende Methodik weiterentwickelt werden. Diese müssten auf einer fundierten wissenschaftlichen Evidenz basieren. Dafür würden häufig die entsprechenden Versorgungsdaten fehlen. Daher müsse die Evidenzlage verbessert und die dafür nötige Forschung entsprechend gefördert werden, heißt es in der Entschließung weiter.

Sind Über- und Unterversorgung relevante Themen in Deutschland? Die DGIM hat dazu eine Befragung ihrer Mitglieder durchgeführt. 4.181 Mitglieder haben Folgendes geantwortet:

  • 70 Prozent gaben an, mehrmals am Tag oder in der Woche mit Überversorgung konfrontiert zu sein.
  • Mehr als 80 Prozent sehen darin ein mehr oder weniger großes Problem.
  • Fast alle Befragten sind sich bewusst, dass die Medizin dadurch teurer wird.
  • Mehr als zwei Drittel sind der Ansicht, dass die unnötigen Leistungen die Patienten verunsichern und ihnen möglicherweise sogar schaden.
  • Unterversorgung wird in Deutschland als nachrangig betrachtet.

Welches sind die Gründe für die Überversorgung aus Sicht der Ärzte?

  • An erster Stelle steht bei Ärzten die Angst vor Behandlungsfehlern.
  • Auch die hohe Erwartungshaltung der Patienten gilt als Grund.
  • Überversorgung sorgt für zusätzliche Einnahmen. Allerdings gab die Hälfte der befragten
  • Ärzte an, dass diese unnötigen Leistungen weniger als zehn Prozent ihres Gesamtbudgets ausmachen würden.
  • Ein Teil der Überversorgung beruht auch auf Unkenntnis der Leitlinien.

 

Welches sind die Kritikpunkte an Choosing Wisely und an Klug entscheiden-Empfehlungen in der Medizin?

In den USA ist früh der Vorwurf der verdeckten Rationierung aufgekommen, weil die Listen den Krankenkassen eine Steilvorlage für das Streichen von Leistungen geben. Die Kritiker bemängeln auch, dass die Empfehlungen nicht systematisch evaluiert werden. In Deutschland ist zwar eine Evaluation durch die DGIM geplant, aber eine Vorher-Nachher-Analyse kann es nach der Veröffentlichung der Empfehlungen schon gar nicht mehr geben. Die Empfehlungen müssten auch durch mehr Daten aus der Versorgungsforschung abgesichert werden. Auch die Methodik muss weiterentwickelt werden. Das hat auch der 119. Ärztetag angemahnt. Im Moment macht jede Fachgesellschaft, was sie für richtig hält.

 

In Deutschland gibt es Leitlinien. Braucht man da überhaupt noch Klug entscheiden-Empfehlungen?

Die S3-Leitlinien basieren auf einer systematischen Auswertung der verfügbaren Evidenz und werden in einem strukturierten und moderierten Konsensus-Prozess entwickelt. Es gibt allerdings drei Probleme mit den deutschen Leitlinien:

  • Die Leitlinien werden als zu lang, zu kompliziert und zu wenig selbsterklärend verstanden. Deshalb kennen viele Ärzte die Leitlinien gar nicht und wenden sie deshalb auch gar nicht an.
  • Wenn viele Ärzte die Leitlinien nicht kennen, kennen die Patienten sie erst recht nicht, was ein Gespräch zwischen Arzt und Patient auf Augenhöhe unmöglich macht. Es gibt zwar ein paar Patientenleitlinien – etwa die Nationale VersorgungsLeitlinie Kreuzschmerz – aber es müsste viel mehr davon geben.
  • Es gibt kein Konzept, wie Leitlinien am besten umzusetzen sind. Das hat auch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) Anfang Juli 2016 angemahnt.

 

Was kann man aus Sicht der Orthopäden sagen?

In der Orthopädie ist die Indikationsstellung häufig nicht so eindeutig wie in anderen Fachgebieten. Für die Arthrose der großen Gelenke gibt es keine eindeutigen Laborparameter wie für Diabetes oder Nierenerkrankungen. Der Schmerz wird über Selbstauskunft ermittelt und das Schmerzempfinden ist subjektiv. Ein Röntgenbild liefert allein auch keine eindeutige Indikation.

Die Indikationsstellung ist relativ, hier könnte die „Klug entscheiden“-Initiative mit ihrer Betonung der Indikationsqualität hilfreich sein. Die medikamentösen Interventionsmöglichkeiten sind begrenzt. Opioide und die sogenannten nicht-steroidalen Antirheumatika sind nicht für eine Langzeittherapie geeignet.

Die Endoprothetik ist eine gute Option, dem Patienten die Schmerzen zu nehmen und ihn wieder beweglich zu machen. In der Orthopädie wird die Indikation zur TEP daher zusammen mit dem Patienten gestellt. Das Problem besteht nicht nur darin, zu entscheiden, wer operiert werden soll, sondern auch, wer nicht operiert werden soll. Soll ein 85-Jähriger bei passablem Allgemeinbefinden noch eine Hüft-TEP bekommen oder nicht?

Das ist letztendlich auch eine gesellschaftspolitische Entscheidung. Diese Situation macht es für die Orthopädie und Unfallchirurgen schwierig, Klug entscheiden-Empfehlungen zu formulieren. Trotzdem wird sich auch die Orthopädie/Unfallchirurgie diesem Thema stellen müssen.




Quelle:

Statement »Indikationsqualität vor Behandlungsqualität: Gemeinsam klug entscheiden in der Medizin« von Dr. med. Manfred Neubert, Kongresspräsident DKOU 2016, Berufsverband für Orthopädie und Unfallchirurgie (BVOU), Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie am Sonneberger Orthopädiezentrum, Bremen anlässlich des Deutschen Kongresses für Orthopädie und Unfallchirurgie (DKOU) 2016.

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