Donnerstag, März 28, 2024

Notfallversorgung in Deutschland: Viele sollten nicht in die Notfallambulanz

Es braucht in Deutschland eine gut funktionierende Notfallversorgung. Eine die die Patienten zuerst behandelt, denen am schnellsten geholfen werden muss.

Sind Verletzungen des Handgelenks und der Hand ein schwerer medizinischer Notfall? Ein Notfall, für den Tag und Nacht die Notfallambulanz einer Klinik bereit sein soll. Und zwar egal, wie die Verletzung aussieht. Oder können viele Verletzungen auch während der regulären Sprechzeiten von einem niedergelassenen Orthopäden und Unfallchirurgen versorgt werden? Vor allem, nachdem das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) die niedergelassenen Orthopäden und Unfallchirurgen dazu verpflichtet, fünf Stunden pro Woche als offene Sprechstunde, ohne Terminvereinbarung, anzubieten. Diese Fragen zielen auf das zentrale Dilemma der derzeitigen Notfallversorgung in Deutschland ab.



 

Notaufnahmen in Kliniken für tatsächliche Notfälle

Die Notaufnahmen der Kliniken sind eigentlich für Patienten da, deren Leben in Gefahr ist oder denen bleibende Schäden drohen, wenn sie nicht sofort eine Behandlung bekommen. Und weniger für Patienten, die man auch anders versorgen kann. Knapp 55 Prozent der Patienten, die die Notaufnahme einer Klinik aufsuchen, halten ihre Beschwerden für wenig dringend. Das hat vor zwei Jahren eine Studie von Martin Scherer und seinen Kollegen vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf gezeigt (1).

Ein Orthopäde und Unfallchirurg musste vor wenigen Wochen sieben Stunden in der Notfallambulanz einer nordrhein-westfälischen Klinik warten, bevor er wegen mehrerer komplizierten Knochenbrüche im Gesicht behandelt wurde, die er sich bei einem Fahrradunfall zugezogen hatte. Es gibt viele Patienten, denen es ähnlich ergeht. Die dringenden Fälle müssen warten, weil auch Patienten mit kleinen und kleinsten Beschwerden behandelt werden müssen.

 

Diagnosen im Bereich Orthopädie und Unfallchirurgie am häufigsten

Am häufigsten kommen Patienten wegen Beschwerden am Bewegungsapparat in die Notaufnahme einer Klinik. Das hat die Studie von Martin Scherer gezeigt (1) und das zeigen auch unveröffentlichte Zahlen der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Baden-Württemberg. Nach den Zahlen der KV Baden-Württemberg fallen sieben der zehn häufigsten Diagnosen in den Bereich Orthopädie und Unfallchirurgie.

Unter dem Strich führen die Liste die bereits genannten Verletzungen am Handgelenk und an der Hand an. Weiter folgen auf dem zweiten Platz Verletzungen am Knöchel und am Fuß. Auf dem dritten Platz kommen Verletzungen am Kopf. Auf Platz vier stehen schließlich Symptome im Verdauungstrakt und im Abdomen, also im Bauchraum.

Es besteht kein Zweifel daran, dass in Deutschland eine gut funktionierende Notfallversorgung nötig ist. Und zwar eine, die diejenigen zuerst behandelt, die es am schnellsten brauchen. Denn Notfallversorgung ist Daseinsfürsorge.



Neuordnung der Notfallversorgung

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hatte völlig recht, als er im Juli bei der Vorstellung seines Gesetzentwurfs zur Neuordnung der Notfallversorgung sagte: „Die Güte eines Gesundheitssystems zeigt sich vor allem im Notfall, wenn Menschen schnelle medizinische Hilfe benötigen“ (2). Sein Gesetzentwurf sieht vor, dass der Notruf 112 und die zentrale Notrufnummer 116117 des ärztlichen Bereitschaftsdienstes von einer Notfallleitstelle entgegengenommen werden. Dort soll dann auf der Grundlage einer qualifizierten Ersteinschätzung eine von drei möglichen Zuordnungen vorgenommen werden.

Entweder wird direkt der Rettungsdienst eingeschaltet oder die Patienten werden an ein neu einzurichtendes integriertes Notfallzentrum einer Klinik überwiesen. Oder die Patienten sollen während der regulären Sprechzeiten eine Arztpraxis aufsuchen (2).

 

Wie sieht die Position des BVOU zur Neuregelung der Notfallversorgung in Deutschland aus?

1. Wir plädieren dafür, den hausärztlichen Notdienst in der bisherigen Form zu erhalten. Die von den Kassenärztlichen Vereinigungen betriebenen Notfall- oder Portalpraxen können akute allgemeinmedizinische Erkrankungen gut behandeln. Um die Qualität weiter zu verbessern, sollten dort vor allem Fachärzte für Allgemeinmedizin tätig sein.

2. Der rund um die Uhr präsente fachärztliche Notdienst ist Sache der Kliniken und sollte den tatsächlichen Notfällen vorbehalten sein.

3. Niedergelassene Orthopäden und Unfallchirurgen in den Praxen sollten jene Unfälle und muskuloskelettale Verletzungen und Beschwerden versorgen, die keine Klinikbehandlung erfordern. Die Weiterleitung könnte über eine entsprechende App erfolgen.

4. Die Notfallversorgung in Deutschland durch niedergelassene Orthopäden und Unfallchirurgen muss adäquat honoriert werden.

5. Patienten, die sich nicht an die von der Notfallleitstelle ausgesprochene Zuordnung halten und direkt die Notfallambulanz einer Klinik aufsuchen, sollten sich mit 50 Euro an den Behandlungskosten beteiligen. Ausnahmen sind Herzinfarkte, Schlaganfälle und andere wirkliche Notfälle.




Quellen:

Statement » Wenn der Notfall kein Notfall ist. Mit welchen Beschwerden kommen Menschen in die Notaufnahme und welche Rolle sollten Ärzte für O und U bei der Versorgung spielen? «. Dr. med. Johannes Flechtenmacher Präsident des Berufsverbandes für Orthopädie und Unfallchirurgie (BVOU), Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, Osteologie, Chirotherapie, Physikalische Therapie, Rehabilitationswesen, Ortho-Zentrum Karlsruhe. Deutscher Kongress für Orthopädie und Unfallchirurgie (DKOU).


Referenzen:

(1) Scherer M. et al. Patienten in Notfallambulanzen. 2017. Deutsches Ärzteblatt, Jg. 114: 645-652.

(2) https://www.bundesgesundheitsministerium.de/notfallversorgung.html

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