Samstag, April 20, 2024

Arterien aus dem 3D-Drucker senken das Risiko bei der Gehirneingriffen

3D-Modelle aus dem 3D-Drucker werden sich zukünftig problemlos für eine ganze Reihe von Verfahren in der Medizin nutzen lassen.

In den labyrinthartigen Fluren des Universitätsklinikums Lübeck, das zu den größten in Deutschland zählt, verliert der Besucher leicht das Gefühl für Ort und Zeit. Die Zukunft der Medizintechnik jedenfalls findet man direkt nebenan, im 3D-Drucklabor des Instituts für Neuroradiologie. Hier setzt Dr. André Kemmling, Oberarzt und Facharzt für Neuroradiologe, hochpräzise Stereolithografie (SLA) ein, um 3D-Modelle von Gehirnarterien auszudrucken, mit deren Hilfe er personalisierte Eingriffe durchführen und Risiken wie Krampfanfälle verringern kann. Nach jahrelanger Erfahrung in der Notaufnahme weiß Dr. Kemmling nur allzu gut, dass man bei einer Gehirn-OP nicht nur schnell, sondern vor allem mit höchster Präzision arbeiten muss: Wenige Millimeter entscheiden über Leben und Tod. Auch die modernste Technologie funktioniert nur dann, wenn sie präzise in den Gehirnarterien der Patienten platziert wird. Die CT-Bilder dienen als Ausgangspunkt für die lebensgroßen Nachbildungen der Gehirnarterien seiner Patienten, die er auf dem 3D-Drucker produziert. Diese Modelle sind ein universell einsetzbares Hilfsmittel für Forschung und Training und stellen gleichzeitig eine kostengünstige, anatomisch exakte Alternative zu Silikonmodellen und Tierversuchen dar. Seine Vision: Ein personalisierter Behandlungsplan für jeden Patienten überall.

 

Personalisierte Behandlung bei Aneurysmen

Ein Aneurysma ist eine Erweiterung der arteriellen Hirngefäße, bei der sich eine ballonartige, blutgefüllte Aussackung bildet. Davon betroffen sind etwa 3 Prozent der Bevölkerung. Je größer und komplexer das Aneurysma, desto wahrscheinlicher ist es, dass es urplötzlich reißt und eine akute Hirnblutung verursacht, die in der Hälfte aller Fälle zum Tod und bei weiteren 20 % zu bleibenden Behinderungen führt.

Meist werden Aneurysmen zufällig bei einer Computertomografie entdeckt, doch nicht alle sind behandlungsbedürftig. Dabei stellt sich oft die Frage: Sollte der Patient das geringere Risiko einer vorbeugenden Behandlung in Kauf nehmen oder mit dem Wissen leben, dass das Aneurysma zu jeder Zeit bersten könnte und dann wahrscheinlich deutlich schwerwiegendere Folgen hätte?

Im OP-Saal: Dr. Kemmling und sein Team behandeln ein Aneurysma nach Testläufen an einem Modell aus dem 3D-Drucker.
Im OP-Saal: Dr. Kemmling und sein Team behandeln ein Aneurysma nach Testläufen an einem Modell aus dem 3D-Drucker.

Heute sind vorbeugende Eingriffe mit High-Tech-Geräten möglich, u. a. einer künstlichen Membran („Flowder“), mit der die Blutzufuhr in das Aneurysma gehemmt wird, sodass sich dieses allmählich zurückbildet. Diese Membran muss jedoch mit maximaler Präzision – auf  den Mikrometer genau – in den winzigen Gehirnarterien platziert werden. Ein zweiter Versuch ist nicht möglich: Sobald sich die Membran im Blutgefäß ausgedehnt hat, kann ohne einen invasiven Eingriff nicht nachgebessert werden.

Mithilfe der innovativen Methode von Dr. Kemmling können Mediziner akkurate, lebensechte Modelle der Gehirnarterien eines Patienten nachbilden und den Eingriff mit den gewohnten Instrumenten üben, um sicherzustellen, dass der Eingriff im OP-Saal funktioniert. So lässt sich außerdem die Dauer der Operation halbieren, von 30 Minuten bei Chirurgen, die noch keine Aneurysma-OP durchgeführt und nicht geübt haben, auf 15 Minuten bei Chirurgen, die an einem 3D-Modell geübt haben.

 

3D-Modellierung in der Gehirnchirurgie

Dr. Kemmling testet in seinem 3D-Drucklabor OP-Instrumente am 3D-gedruckten Aneurysma eines Patienten.
Dr. Kemmling testet in seinem 3D-Drucklabor OP-Instrumente am 3D-gedruckten Aneurysma eines Patienten.

„Wie wird man Neuroradiologe? Man sieht anderen jahrelang zu, aber irgendwann muss man sich ans Gehirn wagen,“ so Dr. Kemmling. Die schnelle, flexible Herstellung von 3D-Modellen ist seiner Ansicht nach eine Lösung, die dringend nötig war und nun den Brückenschlag zwischen Theorie und Praxis ermöglicht.

Dr. Kemmling zählte zu den ersten Käufern des Form 2 in Deutschland. Heute kann er acht Aneurysmafälle in zwei Tagen drucken. Geformte Silikonmodelle haben eine Vorlaufzeit von zwei Wochen und verfügen nicht über die anatomischen Details der Modelle aus dem 3D-Drucker. Diese Klarharzmodelle haben eine Auflösung von 0,05 mm – feiner als das menschliche Haar. Durch die Standardisierung seiner Methode möchte Dr. Kemmling gleichzeitig erreichen, dass Tierversuche ein Ende nehmen.

Indem er Patienten ein echtes Modell ihres Gehirns zeigt, kann Dr. Kemmling das Verfahren direkt vorführen.

„Es ist beruhigend für Patienten, wenn man ihnen sagen kann, dass der Eingriff an ihrer spezifischen Anatomie möglich ist,“ erklärt Dr. Kemmling.

„So sieht Ihr Aneurysma aus, hier machen wir den Zugang, so läuft der Eingriff ab. Da 3D-Modelle so günstig und einfach herzustellen sind, können Patienten sie sogar mit nach Hause nehmen.“

 

Gehirnarterien aus dem 3D-Drucker als Lehrobjekte zum Mitnehmen

Wie bei vielen Menschen wurde das Aneurysma von Christine Milius zufällig bei einem routinemäßigen MRT-Scan wegen anhaltender Kopfschmerzen diagnostiziert. Da sie noch nie von einem Aneurysma gehört hatte, war sie sich nicht sofort darüber im Klaren, wie gefährlich die Lage war. „Ich bekam erst Panik, als ich sah, wie entsetzt meine Freunde waren“, so Milius.

Dr. Kemmling und Patientin Christine Milius beim Betrachten ihres 3D-gedruckten Aneurysma nach erfolgreicher Behandlung.
Dr. Kemmling und Patientin Christine Milius beim Betrachten ihres 3D-gedruckten Aneurysma nach erfolgreicher Behandlung.

Als Dr. Kemmling Frau Milius das 3D Modell ihres Scans zeigte, war sie überrascht, wie klein das Aneurysma war. Er erklärte ihr den Eingriff und führte ihn mit den tatsächlich genutzten Instrumenten am lebensgroßen Modell aus.

Dieses konnte Christine Milius mit nach Hause nehmen, um es besorgten Freunden und Verwandten zu zeigen und ihnen zu erklären, wie es in ihrem Gehirn aussah und wie der Eingriff ablaufen würde.

„Das Maß an Präzision hat mich beeindruckt – nicht einmal eine Stickerin könnte so detailliert arbeiten“, so Milius. „Ich habe weitere Recherchen angestellt und dann beschlossen, dass ich ganz durch die Arterie gehen würde.“

Die Alternative wäre ein klassischer offener Eingriff mit höherem Risiko und erheblich längerer Genesungsdauer gewesen. Endovaskuläre Eingriffe können dagegen an den Patienten angepasst werden und sind weder mit einer Vollnarkose noch mit einem langen Krankenhausaufenthalt verbunden. Der Eingriff dauert gerade einmal 30 Minuten, und wird noch kürzer, wenn der Chirurg sich am Modell vorbereiten kann.

 

Die Zukunft von 3D-Drucker in der Medizin

Heute ist Christine Milius gesund. Bei der letzten Untersuchung wurde bestätigt, dass die Membran wie geplant funktioniert und das Aneurysma fast vollständig verschwunden ist.

Bislang hat Dr. Kemmling mehr als 100 Patienten am Lübecker Universitätsklinikum behandelt – noch zu wenige, um den langfristigen Erfolg der Behandlung mit den Alternativen zu vergleichen. Er kann jedoch bereits jetzt bestätigen, dass sich ein Bypass dank des Trainings an Modellen aus dem 3D-Drucker schneller und sicherer legen lässt.

Dr. Kemmling hält regelmäßige Workshops in seinem Labor und international ab, um sein Wissen mit seinen Kollegen zu teilen.

Damit hat er bereits weitere Einsatzmöglichkeiten von 3D-Drucker in der Medizin angeregt: Eine andere Forschungsgruppe verwendet nun die in Dr. Kemmlings Labor gedruckten 3D-Modelle, um Blutgerinnungsmedikamente zu testen. Darüber hinaus arbeitet Dr. Kemmling mit einem großen Industrieanbieter zusammen, um 3D-Modelle der Herzarterien zu produzieren.

Dr. Kemmling ist sicher, dass sich Modelle aus dem 3D-Drucker problemlos für eine ganze Reihe von Verfahren in der Medizin nutzen lassen. Allgemein können 3D-Modelle für experimentelle Messungen verwendet werden, um zu sehen, wie sich Medizintechnik in den Körper integrieren lässt, ohne den Blutfluss zu behindern. Damit sind diese Modelle für alle möglichen klinischen Anwendungen relevant.

Ein Display mit 3D-Arterienmodellen unterschiedlicher Größen aus Klarharz mit einer Auflösung von 0,05 mm.
Ein Display mit 3D-Arterienmodellen unterschiedlicher Größen aus Klarharz mit einer Auflösung von 0,05 mm.

Bei für den einzelnen Patienten personalisierten Eingriffen wandeln sich bereits die Methoden in der Medizintechnik: 3D-Modelle lassen sich deutlich günstiger und schneller herstellen und werden über kurz oder lang Silikonmodelle und Tierversuche ersetzen. Die Methode von Dr. Kemmling lässt sich von jedem Arzt mit einem 3D-Drucklabor und dem Wunsch nachahmen, jeden Patienten individuell zu behandeln.

Für Nachfragen zu Dr. Kemmlings Forschung, wenden Sie sich direkt an ihn (Kontakt).

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