Donnerstag, April 18, 2024

Ärztliche Verantwortung angesichts des Klimawandels

Hauptthese: Um der ärztlichen Verantwortung angesichts des Klimawandels gerecht zu werden, ist eine konstruktive Integration Public-Health-ethischer Dimensionen in das ärztliche Ethos anzustreben.

Ausgangspunkt: Der Klimawandel hat Auswirkungen auf die Gesundheit. Das ist sowohl aus der akutmedizinischen Sicht als auch aus Sicht der Prävention und Gesundheitsförderung als auch der Global-Health-Perspektive relevant. > Auf die empirischen Zusammenhänge, Modellierungen et cetera gehe ich nicht weiter ein.

Zentrale Frage für mich: Welche Verantwortung haben Ärztinnen und Ärzte angesichts des Klimawandels?

Beispiel Lancet pledge: „The health of people, their communities, and the planet will be my first consideration and I will maintain the utmost respect for human life, as well as reverence for the diversity of life on Earth.“ (Wabnitz KJ, et al. 2020, Lancet: https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)32039-0).


These 1: Es ist ethisch unkontrovers, dass sich Ärzteschaft und individuelle Ärztinnen/Ärzte verstärkt und proaktiv mit Klimawandel und seinen Auswirkungen auf Gesundheit beschäftigen müssen.

  • Aufgrund der Auswirkungen des Klimawandels auf Gesundheit (und Krankheit) sollte sich die Ärzteschaft als Berufsverband in diesem Bereich verstärkt und proaktiv positionieren.
  • Wegen ihrer definierten Aufgabe, ihrer Rolle und ihres bestehenden Ethos müssen individuelle Ärztinnen und Ärzte über klimabedingte Erkrankungen lernen, um Patientinnen und Patienten professionell behandeln zu können.
  • Als verantwortungsvolle und informierte Personen sollten Ärzt*innen in der Ausübung medizinischer Tätigkeiten auf CO2-Einsparungen hinwirken.

Hier gilt jedoch: „Medizin & Klimawandel“ ist noch immer ein relativ neuer Bereich, daher:

  • mehr Aktivität erforderlich im Bereich Aus-, Fort- und Weiterbildung. Mehr politische Aktivität erforderlich, um Auswirkungen auf Gesundheit/Krankheit ins Bewusstsein zu rücken. Aufgrund von Stand und Profession sollten Ärzt*innen die Brücke bilden zwischen Forschung, Politik, Gesundheitswesen, Ärzteschaft und Bürger*innen (> die Patient*innen sein können oder es schon sind).
  • Beispiele: Einbringen der Thematik in Curricula, Fachtagungen, Fachzeitschriften, Forschungsprojekte et cetera. Hier ist schon viel auf dem Wege (gutes Beispiel: neu gegründete Medizinische Fakultät, Universität Augsburg, mit Schwerpunkt Umwelt und Gesundheit), es muss aber noch mehr werden angesichts massiver Auswirkungen des Klimawandels auf die Gesundheit.

These 2: Es kann zu Konflikten in der Frage kommen, wie groß das individuelle ärztliche Engagement sein sollte.

Sollte das individuelle Engagement der Ärzt*innen über das oben Genannte hinausgehen? Wo könnten hier Konflikte liegen?

  • Klimawandel geht weit über die individuelle Perspektive hinaus; ist ein kollektives Problem und ein zukunftsbezogenes Problem. Wie abwägen, wenn Bedürfnisse einzelner Patient*innen mit Klimaschutz im Konflikt stehen (wie zum Beispiel bei klimabelastender Therapie). Ist nicht die Rolle von Ärzt*innen vielmehr, das Individuum zu schützen und zu priorisieren? Gerade vor populationsbezogenen Bedürfnissen, gerade vor Bedürfnissen zukünftiger Generationen?
  • Klimawandel ist ein hoch politisiertes Thema. Ist nicht die Rolle von Ärzt*innen vielmehr, sich neutral zu verhalten und gerade und nur auf das Individuum und seine akuten Bedürfnisse zu achten?

These 3: Um der ärztlichen Verantwortung angesichts des Klimawandels gerecht zu werden, ist eine konstruktive Integration Public-Health-ethischer Dimensionen in das ärztliche Ethos anzustreben.

Seit einigen Dekaden findet aus verschiedenen Gründen ein Shift statt, der auch für Ärzt*innen relevant ist, die in der individuellen Krankheitsversorgung tätig sind: a) Krankheitsmodell ist nicht mehr primär individualistisch ausgerichtet, sondern es werden soziale und umweltbedingte Determinanten von Gesundheit anerkannt und mit berücksichtigt (zum Beispiel biopsychosoziales Modell von Krankheit); b) Shift von Akutmedizin hin zu Prävention und Gesundheitsförderung (siehe auch zentrale Rolle von Ärzt*innen im deutschen Präventionsgesetz); c) Gesundheit wird zunehmend als „One Health“ verstanden, also als globales Konzept, in dem Mensch, Tier und Umwelt miteinander zusammenhängen (zum Beispiel sehr relevant bei COVID-19-Pandemie, antimikrobieller Resistenz).

Diese Entwicklungen erfordern auch ein Nachdenken über das „klassische“ Ethos in der Medizin: Wie kann diesen Entwicklungen Rechnung getragen werden? Ein Festhalten an der klassisch individualistisch ausgerichteten Medizinethik (individuelle Fürsorge, individuelle Patient*innen- Autonomie, Nichtschaden des individuellen Patienten, eher Ressourcen-orientierte Gerechtigkeitsfragen) scheint nicht mehr angemessen angesichts der oben genannten Entwicklungen. Eine vollständige populationsbezogene Ethik („Public-Health-Ethik“) scheint auch nicht angemessen, denn die individuelle Behandlung steht ja nach wie vor im Fokus und ist der primäre Arbeitsauftrag für Ärzt*innen.


Vorschlag: Integration populationsbezogener Elemente ins ärztliche Ethos.

A) Kennenlernen der Public-Health-Ethik, die auf die Gesunderhaltung aller, die Schadensminimierung für alle ausgerichtet ist und die Fragen der gesundheitlichen und sozialen Ungleichheit zentral in den Blick nimmt. Sie schafft es, einem biopsychosozialen Modell von Krankheit, den sozialen und umweltbedingten Determinanten von Gesundheit, dem Shift hin zu Prävention, dem Verständnis von Gesundheit als „One Health“ Rechnung zu tragen.

B) Eine konstruktive Integration bedeutet, die Möglichkeiten der ärztlichen Rolle auszuloten und auszuschöpfen (was angesichts des Klimawandels von größter Dringlichkeit wäre), anstatt an dem Bedürfnis festzuhalten, die individualistische Ebene und ein „klassisches“ Ethos verteidigen zu müssen.

C) Kritisches Diskutieren möglicher Konflikte zwischen populationsbezogener und individueller Ebene ist notwendig, um das Bewusstsein für die eigene Rolle zu schärfen und den Bedürfnissen der individuellen Patient*innen als Teil einer komplexen, globalen, kollektiven Herausforderung nach wie vor gerecht zu werden.

 

Frage der Politisierung und Neutralität?

Wenn ein biopsychosoziales Krankheitsmodell anerkannt ist, wenn anerkannt ist, dass auch Prävention und Gesundheitsförderung zum ärztlichen Aufgabenbereich gehören (und gegebenenfalls, wenn One Health sich verstärkt durchsetzt), dann kann und muss die proaktive Beschäftigung mit dem Thema Klimawandel und seinen Auswirkungen nicht als Verletzung des Neutralitätsgebots gesehen werden. Stattdessen ist es sogar geboten, dass sich die Ärzteschaft, die individuellen Ärzt*innen und die Studierenden mit diesem Bereich proaktiv auseinandersetzen – unabhängig von ihrer grundsätzlichen politischen Positionierung (als Privatperson).

 

Zusatzposition

Diese Ausführungen sind nicht nur für das Thema Klimawandel relevant, sondern auch für Pandemien, antimikrobielle Resistenz, weitere Fragen der Gesundheitsförderung und Prävention insgesamt (zum Beispiel auch im Zusammenhang mit Digitalisierung/Big Data). Das ärztliche Ethos muss diesen Elementen insgesamt Rechnung tragen (und sollte so vermittelt und unterrichtet werden), nicht nur in Bezug auf den Klimawandel.


Quelle:

REFERENTENSTATEMENT Wie weit geht die ethische Verantwortung der Ärzteschaft? Müssen Ärztinnen und Ärzte sich mit dem Klimawandel beschäftigen? Professor Dr. med. Verina Wild, Ethik der Medizin, Universität Augsburg

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