Gliazellen – die häufigsten Zellen in Gehirn und Rückenmark – sind bei klinisch relevanten Schmerz-Phänomenen beteiligt und wirken selbständig schmerzverstärkend.
Das Gefühl von Schmerz entsteht, indem Nervenbahnen die Erregungen nach einer Gewebeschädigung an das Rückenmark weiterleiten, wo bereits eine umfassende Verarbeitung der Schmerzinformation stattfindet. Von dort werden die Erregungen an das menschliche Gehirn weitergeleitet, wo der Sinneseindruck „Schmerz“ entsteht. Das ist der bekannte Mechanismus. Jetzt haben ForscherInnen von der Abteilung für Neurophysiologie am Zentrum für Hirnforschung der MedUni Wien aber herausgefunden, dass Schmerz keine reine Nervensache ist, sondern dass auch Gliazellen bei klinisch relevanten Schmerz-Phänomenen beteiligt sind und selbständig schmerzverstärkend wirken. Die Studie wurde nun im Top-Journal „Science“ veröffentlicht.
Die häufigsten Zellen im menschlichen Gehirn und Rückenmark sind Gliazellen. Es sind von den Nervenzellen abgegrenzte Zelltypen, die die Nervenzellen umgeben und wichtige unterstützende Funktionen – etwa beim Stofftransport und Stoffwechsel oder beim Flüssigkeitshaushalt im Gehirn und Rückenmark – haben.
Rätselhafte Schmerzphänomene erklären
Gleichzeitig können die Gliazellen aber selbst bestimmte Botenstoffe freisetzen, zum Beispiel entzündungsfördernde Zytokine, wenn sie – etwa durch Schmerzprozesse – aktiviert werden. Gliazellen haben also zwei Modi: Einen schützenden und einen pro-inflammatorischen, also entzündungsfördernden. „Die Aktivierung von Gliazellen sorgt dafür, dass es zu einer schmerzverstärkenden Wirkung kommt, und auch, dass sich der Schmerz oft bis in Körpergegenden ausbreitet, die vorher gar nicht betroffen waren. Unsere Studie erklärt erstmals dieses und andere bisher rätselhafte Schmerzphänomene in der Medizin“, sagt Jürgen Sandkühler Leiter der Abteilung für Neurophysiologie am Zentrum für Hirnforschung der MedUni Wien.
Die überschießende Aktivierung der Gliazellen im Rückenmark kann z.B. durch starke Schmerzreize bei einer Wunde oder einem operativen Eingriff hervorgerufen werden, aber auch durch Opiate. Sandkühler: „Das erklärt auch, warum Opiate bei der Schmerzlinderung zunächst gut wirken, danach aber oftmals ihre Wirkung verlieren. Ein weiteres Beispiel ist der ‚Entzug‘ bei Drogenabhängigen, wo aktivierte Gliazellen für starke Schmerzen im ganzen Körper sorgen.“
Gesunder Lebensstil kann System der Gliazellen positiv beeinflussen
Auch neuroinflammatorische (entzündliche) Erkrankungen im Gehirn und Umweltfaktoren sowie der eigene Lebensstil können, so Sandkühler, die Gliazellen aktivieren. Dazu zählen Depressionen, Angststörungen und chronischer Stress, aber auch Multiple Sklerose oder Alzheimer und Diabetes, sowie Bewegungsmangel und falsche Ernährung. Sandkühler: „Die Gliazellen sind ein ganz wichtiger Faktor für das Gleichgewicht des persönlichen, neuroinflammatorischen Systems.“ Die Ergebnisse der Studie lassen Spekulationen zu, wonach Verbesserungen im eigenen Lebensstil einen positiven Einfluss auch auf dieses System haben und dazu beitragen, generell weniger Schmerzen oder „Zipperlein“ zu erleiden, so Sandkühler: „Wir haben es also auch selbst in der Hand: Drei- viermal eine halbe Stunde mäßiger Sport pro Woche, gesünderes Essen und das Vermeiden von Übergewicht können bereits einen großen Unterschied machen.“
Literatur:
„Gliogenic LTP Spreads Widely in Nociceptive Pathways“ M.T. Kronschläger, R. Drdla-Schutting, M. Gassner, S.D. Honsek, H.L. Teuchmann, J. Sandkühler. Science, Nov. 10, 2016.