Mittwoch, März 29, 2023

Diagnose-Leitfaden für Multiple Sklerose

Multiple Sklerose hat 1000 Gesichter, die Rolle des ärztlichen Erstbegutachters ist von großer Bedeutung bei der Stellung der Diagnose.

Die Multiple Sklerose (MS) ist eine entzündlich-entmarkende Erkrankung des Zentralnervensystems (ZNS) und nach der Epilepsie die zweit­häufigste chronisch neurologische Erkrankung des jungen Erwachsenenalters. Oft treten schon in vorangegangenen Monaten und Jahren vor der definitiven Diagnose Multiple Sklerose bereits erste Krankheitsschübe und Symptome auf.

 

Multiple Sklerose – eine Erkrankung mit tausend Gesichtern

Nach den Erkenntnissen der letzten Jahre über den Pathomechanismus der entzündlichen Demyelinisierung zeigten sich mannigfaltige neuroimmunologischen Vorgänge die zu verschiedenen Entmarkungsmustern der Läsionen in der weissen Substanz des Gehirns und Rückenmarkes führen. Letzte Erkenntnisse beschreiben auch eine Mitbeteiligung der grauen Substanz in der Rindenregion. Neben Faktoren einer autoimmunen Immunreaktion mit veränderter Entzündungsregulation sind wahrscheinlich auch Umweltfaktoren und genetische Disposition des einzelnen Individuums für das klinische Erscheinungsbild der Erkrankung ausschlaggebend.

Demnach sind die Hauptsymptome, ebenso wie der Verlauf, von Patient zu Patient vollkommen unterschiedlich, sodass die Multiple Sklerose auch »Erkrankung mit tausend Gesichtern« genannt wird. Absolut MS-spezifische Symptome können nicht definiert werden, obwohl einzelne Beschwerden durchaus typisch sind. Einige Erkrankungen können zudem ähnliche Symptome hervorrufen.

 

Komplexität der Diagnose-Stellung Multiple Sklerose

Nicht selten haben vor definitiver Diagnose Multiple Sklerose erste Schübe und Symptome schon in vorangegangenen Monaten und Jahren stattgefunden. Gründe für eine verzögerte Diagnose sind sehr häufig der episodische Charakter des Funktionsausfalles und die völlige Remission erster Symptome in bis zu 85%. Eine retrospektive oder aus unterschiedlichen Quellen abgeleitete Datenerhebung macht den neurologischen Bezug nicht immer leicht erkennbar. Schwierig sind vor allem die Unterscheidung von Schub und so genannten paroxysmalen Phänomenen, die in ihrer Konstanz und Erscheinungsbild noch unregelmässiger auftreten und primär nicht verdächtig für die Multiple Sklerose sind.

Von grösster Wichtigkeit ist die richtige Bahnung der Diagnose-Stellung. Bei Symptomen, die für eine Multiple Sklerose sprechen sollte eine frühzeitig zielführende Abklärung und auf jeden Fall eine fachärztliche neurologische Überweisung erfolgen. Damit wird die weitere differenzialdiagnostische Abklärung unterstützt, um Fehldiagnosen oder ungezielte Untersuchungen zu vermeiden. Die Komplexität der Diagnose-Stellung einer Multiplen Sklerose hat enorm zugenommen und erfordert mittlerweile ein Spezialwissen, über das nur entsprechend ausgebildete FachärztInnen in MS-Spezialzentren verfügen.

 

Multiple Sklerose – initiale Symptome

Trotz der geringen Spezifität der Symptome gibt es einige Orientierungshilfen. Generell beschrieben reflektieren Zeichen einer Multiplen Sklerose jene Regionen des ZNS, die die stärksten Entmarkungszeichen aufweisen. Pragmatisch gesehen können die initialen Symptome in 3 Kategorien eingeteilt werden: Beteiligung des Nervus opticus, des Hirnstammes und der so genannten langen Bahnen, wobei hier sensible, motorische, zerebelläre Symptome und Blasenstörungen auftreten können.

In Abhängigkeit vom Alter der PatientInnen sind zwischen 20 und 39 Jahren eine Sehnervenentzündung mit ca. 13–23%, Doppelbilder und Schwindel mit 12%, Gleichgewichtsstörungen mit 15%, sensible Symptome mit 44% , und motorische Symptome mit 30% die häufigsten typischen Symptome im Rahmen einer ersten Manifestation einer Multiplen Sklerose. Schmerzen als alleiniges Erstsymptom sind hingegen selten.

Ein interessanter Aspekt ist das inverse Verhältnis zwischen der Dauer der ersten Episode vor einem Spitalsaufenthalt und der Wahrscheinlichkeit der Rückbildung der Symptome. Eine Orientierungshilfe stellt weiters das Alter bei Erkrankungsbeginn dar. Bei Erstdiagnose sind nur 10% jünger als 20 Jahre, 70% der PatientInnen sind zwischen 20 und 40 Jahren mit einem Altersgipfel um das 30. Lebensjahr, nur 20% sind über 40 Jahre. Ein Großteil der PatientInnen beginnt mit einem schubhaft-remittierenden Verlauf. Erst nach einer klinisch neurologischen Begutachtung hat die Kernspintomographie (MRT) eine Schlüsselrolle in der Diagnosestellung und Differenzialdiagnose.

 

Zeitliche ­Dissemination

Im Grunde genommen basiert die Diagnose Multiple Sklerose auf der Annahme eines chronischen Prozesses, der unterschiedliche Bereiche des ZNS zu unterschiedlichen Zeitpunkten betrifft. Die klinischen und morphologischen Läsionen müssen die Kriterien der so genannten »Dissemination in Zeit und Ort« erfüllen.

Zeitliche Dissemination bedeutet, es kommt zum Auftreten von akuten Funktionsstörungen neben bereits bestehenden Störungen als Residuen aus vorangegangenen Schüben. Das Kriterium der zeitlichen Dissemination kann aber auch durch eine MRT-Verlaufskontrolle erfüllt werden, die im Vergleich zum Ausgangsbefund eine klar definierte Entwicklung zeigen muss.

 

Örtliche ­Dissemination

Örtliche Dissemination bedeutet, es müssen objektive Hinweise auf mindestens zwei Läsionen primär nicht zusammenhängender neurologischer Funktionssysteme bestehen. Ein klinisches Beispiel hierfür wäre die Kombination einer zentralen Sehstörung und einer spinalen Ataxie. Die MRT-Kriterien für den Nachweis der örtlichen Dissemination sind exakt definiert. Die zum Teil sehr komplexen Kriterien der Multiplen Sklerose sind nötig, um vorschnelle und möglicherweise falsche Diagnosen zu verhindern. Die Liquordiagnostik und elektrophysiologische Untersuchungen (evozierte Potenziale) liefern Zusatzinformationen. Zumeist erfolgt die Erstvorstellung eines Patienten mit ersten Symptomen nicht bei einem Neurologen sondern beim Hausarzt. Dieser hat schließlich eine wichtige Funktion in der Begleitung von Patienten. Seine Aufgaben sind:

  1. Erkennen eines neurologischen Erstsymptoms und neurologisch fachärztliche Zuweisung.
  2. Vermeidung von ungezielten MRT-Untersuchungen und der Gefahr des vorzeitigen Multiple Sklerose- Verdachtes für den Patienten.
  3. Erkennen von Residualsymptomatik nach längerem Verlauf.
  4. Unterstützung der Therapie-Adhärenz und der Zusammenarbeit mit neurologischen Spezialambulanzen bei der Langzeitbehandlung.
  5. Vermeidung von widersprüchlichen Aussagen.

 

Fazit

Zusammenfassend sind die Eck­pfeiler einer frühen Diagnose-Stellung der Multiplen Sklerose das Erkennen eines Zusammenhangs zwischen klinischen Symptomen und der Zuordnung zu einer Beeinträchtigung des Zentralnervensystems. Hierbei ist die Rolle des ärztlichen Erstbegutachters ein wichtiges Bindeglied zwischen Patienten und neurologischer Spezialambulanz.


Quelle:

http://www.nationalmssociety.org/Symptoms-Diagnosis/Diagnosing-MS

Diagnose-Leitfaden für den praktischen Arzt: Multiple Sklerose – Erkrankung mit tausend Gesichtern. Univ.-Prof. Dr. Christiane Mascha Schmied. MEDMIX 4/2007

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