Freitag, März 29, 2024

Myotubuläre Myopathie im Fokus

Myotubuläre Myopathie verhindert bei Neugeborenen nahezu eine selbständige Atmung. Unlängst wurden Defekte dieser seltenen vererbten Muskelerkrankung entschlüsselt.

Berliner Forscher haben herausgefunden, warum Zellen von Patienten, die an der seltenen Muskelerkrankung Myotubuläre Myopathie leiden, nicht richtig funktionieren. Durch die unlängst in Nature veröffentlichte Arbeit ist klar geworden, wie ein dynamischer, für die Muskelentwicklung und Funktion essentieller zellulärer Prozess mittels winziger Veränderungen bestimmter Membranlipide gesteuert wird.

 

Myotubuläre Myopathie – schwerste Form zentronukleärer Myopathien

Kommt ein Kind mit Myotubulärer Myopathie, der schwerwiegendsten Form der zentronukleären Myopathien (auch als XLCNM bezeichnet) auf die Welt, kann es kaum eigenständig atmen. Die Muskeln sind verkümmert, das Neugeborene liegt schlaff im Arm und ist mitunter sogar zu schwach, um zu trinken. Babies mit der seltenen Muskelerkrankung überleben meist nicht die ersten Lebensmonate. Die Gruppe um Volker Haucke vom Leibniz-Institut für Molekulare Pharmakologie (FMP) in Berlin hat nun in Zusammenarbeit mit den Laboren von Jocelyn Laporte vom Institut Génétique Biologie Moléculaire Cellulaire (IGBMC) in Strasburg und Carsten Schultz vom Europäischen Molekularbiologielaboratorium (EMBL) in Heidelberg erforscht, was bei dieser Krankheit auf der molekularen Ebene schiefläuft – und ist dabei auf ein allgemeines Organisationsprinzip in Zellen gestoßen.

Bislang war bekannt gewesen, dass es sich bei der Erbkrankheit um einen Defekt im Gen MTM1 handelt, durch den die Muskelfasern nicht richtig funktionieren. Das Gen kodiert für ein Enzym, das darauf spezialisiert ist, Phosphatgruppen von den Köpfen bestimmter Membranlipide, den sogenannten Phosphoinositidphosphaten (PIPs) abzuknabbern. PIPs dienen der Zelle zur Markierung ihrer Kompartimente und zur Steuerung des Stofftransports. „Die Zelle ist ein sehr dynamisches System, das wir uns wie eine Metropole vorstellen können, in der sich die Menschen hin- und her bewegen“, erklärt Volker Haucke. „Je nach Anlass ziehen sich die Menschen um – im Frack nimmt man ein Stück weit eine andere Identität an, als wenn man in Jeans und Sweatshirt daherkommt, im Pyjama wird man nicht in die Oper eingelassen. In ähnlicher Weise kleiden sich die Kompartimente und Transportvesikel innerhalb der Zellen in immer wieder andere PIPs und wechseln dadurch ihre Identität.

„Jedes PIP besteht dabei aus einem fettlöslichen Schwanz, der in den Membranen der Zellkompartimente verankert ist und einem wasserlöslichen Kopf, der aus der Membran herausragt. Der Kopf kann an verschiedenen Stellen mit Phosphaten bestückt sein, die Phosphatgruppen werden durch Enzyme abgelöst und an anderen Stellen angefügt. Es handelt sich dabei um eine minimale Veränderung, die blitzschnell vonstattengeht, die aber von der Zelle eindeutig abgelesen werden kann. So ist zum Beispiel durch die Anheftung einer Phosphatgruppe an einer bestimmten Position klar, dass ein Transportbehälter ins Zellinnere gehört; bei einer anderen Bestückung mit Phosphat wandert er zur äußeren Zellmembran, dockt dort an und entlässt seine Fracht ins Freie.

Ein solcher Transport kommt bei Myotubuläre Myopathie-Patienten zum Erliegen, wie Katharina Ketel aus der Haucke-Gruppe mit trickreichen Experimenten und hochaufgelösten Aufnahmen aus dem Zellinneren zeigen konnte. Die Ursache der Erkrankung ist ein Gendefekt in MTM1, ein Enzym, das Phosphatgruppen von den PIPs entfernt und nur in Kooperation mit einem anderen Enzym arbeitet, das an eine andere Stelle des Kopfes eine Phosphatgruppe anfügt. Es wird dadurch klarer, wodurch die dynamischen Abläufe in Zellen dirigiert werden und illustriert wie das Studium einer seltenen Erbkrankheit zur Entdeckung molekularer Mechanismen führen kann, die für das Funktionieren unserer Zellen notwendig sind. „Es werden niemals einfach nur beliebige Phosphatgruppen von PIPs entfernt, denn dann stünde ein Zellkompartiment plötzlich ganz ohne Identität da – das käme einem Gedächtnisverlust gleich, es wüsste nicht mehr, woher es kommt und wo es hin soll“, erklärt Volker Haucke.

„Durch die Zugabe von synthetischen PIPs mit einem bestimmten Kode, konnten wir den Transport der Container manipulieren und damit zeigen, dass die Konversion der PIP Identität tatsächlich das Problem in Zellen von XLCNM Patienten darstellt,“ ergänzt Carsten Schultz.

„Bei XLCNM-Patienten stranden manche der Transportbehälter im Zellinnneren, die eigentlich Proteine zur Zelloberfläche befördern müssten, weil eine Phosphatgruppe bei einem bestimmten PIP nicht entfernt werden kann,“ sagt Jocelyn Laporte, ein Experte für XLCNM und Koautor der Studie. „In Muskeln gelangen daher Proteine, die für ihre Bildung Integrität und Funktion notwendig sind, nicht an den richtigen Ort in der Zelle.“ Bei ihren Experimenten in Zellkultur konnten die FMP-Forscher den Transport mit einem bestimmten Wirkstoff wieder in Gang setzten. Dies wäre ein Ansatzpunkt für die Entwicklung von Medikamenten, um die schwerwiegende und derzeit unheilbare Erbkrankheit zu behandeln.

Quelle: Katharina Ketel, Michael Krauss, Anne-Sophie Nicot, Dmytro Puchkov, Marnix Wieffer, Rainer Müller, Devaraj Subramanian, Carsten Schultz, Jocelyn Laporte, Volker Haucke. A phosphoinositide conversion mechanism for exit from endosomes. Nature, DOI: 10.1038/nature16516

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