Freitag, April 19, 2024

Jugendliche mit Adipositas besser erreichen und versorgen

Jugendliche mit Adipositas werden in der Gesellschaft stigmatisiert. Dazu gehören Vorurteile bis hin zur Diskriminierung durch Benachteiligungen im Alltag.

Für Jugendliche mit extremer Adipositas gibt es auch in unseren Breiten bislang kein überzeugendes, wissenschaftlich-basiertes Behandlungs- und Betreuungskonzept. Die betroffenen Jugendlichen haben ein erhöhtes Risiko für zahlreiche somatische Folgeerkrankungen wie beispielsweise Typ-2-Diabetes mellitus und orthopädische Störungen sowie dem Schafapnoe-Syndrom.

Weiters leiden die Betroffenen oft an psychischen Störungen wie beispielsweise Depression und Delinquenz sowie einem selbstverletzendes Verhalten. Schließlich drohen auch häufig soziale Isolation einschließlich von Arbeitslosigkeit, die sich auch aufgrund funktioneller Beeinträchtigungen und der Stigmatisierung entwickelt.

 

Viel zu wenige Jugendliche mit Adipositas suchen mediznische Hilfe

Trotz dieser schlimmen Auswirkungen der extremen Adipositas im Jugendalter sind diese Jugendlichen medizinisch schwer zu erreichen und zu behandeln. Nur ein kleiner Prozentsatz der Patienten sucht aktiv nach einer Behandlung. Die Gründe hierfür sind kaum verstanden und liegen vermutlich in 

  • dem jungen Alter
  • einer überwiegend niedrigen Bildung der Betroffenen
  • einem niedrigen Sozialstatus
  • funktionellen Beeinträchtigungen infolge eingeschränkter körperlicher Mobilität
  • psychischen Begleiterkrankungen
  • erfolglosen Versuchen, Gewicht abzunehmen, und der entstandenen Frustration.

 

JA-Studie in Deutschland entwickelt

Auf der Basis dieser Erkenntnisse wurde in Deutschland die JA-Studie entwickelt (www.ja-studie.de), die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen des Kompetenznetzes Adipositas gefördert wird. Auf verschiedenen Zugangswegen – wie soziale Institutionen und medizinische Behandlungseinrichtungen sowie Patientenregister – können Jugendliche mit extremer Adipositas daran teilnehmen.

Bei den meisten Jugendlichen mit extremer Adipositas sind konventionelle Therapieprogramme erfolglos. Grundsätzlich ist auch eine bariatrisch-chirurgische Maßnahme aufgrund der notwendigen strengen Indikationsstellung nicht möglich. Betroffene Jugendliche schaffen deswegen meistens keine ausreichende Gewichtsreduktion.

Für diese Situation können die Betroffenen auch nicht verantwortlich gemacht werden. Daher müssen diese Jugendlichen mit extremer Adipositas mit ihrer nicht selbst zu verantwortenden Krankheit in unserer Gesellschaft angenommen werden. Dazu gehört, dass sie nach folgenden Prinzipien behandelt werden:

  • Gleichberechtigung (Sozialgesetzbuch, Nachteilsausgleich, Verbesserung der Teilhabe)
  • Antidiskriminierung (Medien, Aufklärung
  • adäquate Eingliederungsmaßnahmen in unsere Gesellschaft durch Förderung der Berufsausbildung, Schaffung entsprechender Arbeitsplätze
  • Übernahme von Kosten für Behandlung und Unterstützung durch die Kostenträger, sozialen Einrichtungen und andere

Die Therapie der Adipositas muss verbessert werden, weil wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass die bisherigen Vorstellungen zur Entstehung und zu den Therapiemöglichkeiten der Adipositas falsch sind und betroffenen Patienten oft Unrecht getan wird.

 

Gegen Diskriminierung und für die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Adipositas

Die Stigmatisierung von Menschen mit Adipositas ist in unserer Gesellschaft klar gegeben und ist weitgehend akzeptiert. Dazu gehören Vorurteile bis hin zur Diskriminierung durch Benachteiligungen im alltäglichen Leben. Die Stigmatisierung beginnt im Kindesalter und hat psychische Belastungen und teilweise gesundheitliche Probleme zur Folge.

Die Diskriminierung kann sich in persönlichen Beziehungen, im Gesundheitswesen und im Kontext der Ausbildung und des späteren Berufslebens vollziehen. Die Aufklärung über die physiologischen Grundlagen der Körpergewichtsregulation ist ein Hauptteil von gesellschaftlichen Anti-Stigma-Kampagnen. Wissenschaftlich basierte Informationen, die zur sachlichen Aufklärung beitragen, beinhalten beispielsweise:

  • Das Körpergewicht des Menschen ist biologisch streng reguliert.
  • Das Individuum kann durch seine willentliche Steuerung sein Körpergewicht nur in geringem Ausmaß kontrollieren.
  • Die Schuld an einem zu hohen Körpergewicht liegt nicht bei den Kindern.
  • Die weitaus bedeutenderen Einflussparameter auf das Körpergewicht sind die genetische Veranlagung und programmierte frühkindliche, metabolische Entwicklungsprozesse.
  • Die Lebensbedingungen, unter denen Kinder und Jugendliche heute aufwachsen, führen zu einer Demaskierung der genetischen Anlage und haben starken Einfluss auf die Programmierungsvorgänge.
  • Verhaltenstherapeutisch-basierte Schulungs- und Therapieprogramme zeigen bei einem Teil der Betroffenen medizinisch relevante Erfolge. Der Effekt auf den Gewichtsstatus ist dabei gering, da das Ziel dieser Maßnahmen nicht die Gewichtsnormalisierung, sondern vor allem die Verbesserung des Ernährungs- und Bewegungsverhaltens ist.
  • Durch eine Verbesserung des Ernährungs- und Bewegungsverhaltens ist unabhängig von einer Gewichtsreduktion eine Verbesserung des Stoffwechsels und der Folgeerkrankungen erzielbar.

 

Aufklärung gegen Stigmatisierung

Diese und weitere Informationen sollen dazu beitragen, in der Gesellschaft Übergewicht und Adipositas als biologische Zustände zunächst zu akzeptieren, ohne Attribute wie „faul“, „ungezügelt“, „bequem“ oder „selbst schuld“ zu verwenden. Gleichzeitig sollen diese Informationen die Betroffenen entlasten und schließlich eine realistische Einschätzung der Hilfemöglichkeiten eröffnen. Schließlich kann entsprechende Aufklärung auch Prozesse der Stigmatisierung im Familiensystem gezielt entgegenwirken.


Quelle:

Statement »Adipositas im Kindes- und Jugendalter: erhebliche Versorgungslücken in Deutschland – Jugendliche mit extremer Adipositas sind die Verlierer«. Professor Dr. med. Martin Wabitsch Tagungspräsident 34. Jahrestagung der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG); Leiter der Sektion Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie, Zentrum für seltene endokrine Erkrankungen an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Ulm. 12. Diabetes Herbsttagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) und 34. Jahrestagung der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG), November 2018, Wiesbaden

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