Samstag, April 20, 2024

World PI Week: Primäre Immundefekte im Fokus

Zur World PI Week wurden in der letzten Aprilwoche weltweit Primäre Immundefekte und die Anliegen Betroffener mit dieser angeborenen Immunschwäche in den Blickpunkt gerückt.

Primäre Immundefekte bleiben oft jahrelang unentdeckt. Die richtige Therapie bekommen Betroffene meist erst nach einem langen Leidensweg. [1] Dabei gibt es klare Warnzeichen für das Vorliegen eines PID und entsprechende Testverfahren. Was weiter verbessert werden muss, ist das Bewusstsein für die Erkrankung sowohl in Fachkreisen als auch in der Öffentlichkeit. Dazu wurde die World PI Week ins Leben gerufen.

Primäre Immundefekte (PID) – angeborene Störungen des Immunsystems

Primäre Immundefekte (PID) sind genetisch bedingte Störungen des Immunsystems, die durch einen angeborenen Defekt in der Entwicklung der Immunzellen (z. B. B- oder T-Lymphozyten) oder durch einen Mangel an Immunglobulinen (Hypo- oder Agamma-globulinämie) aufgrund eines Defekts der B-Zell-Reihe auftreten. Auch kann eine Störung in anderen Funktionsbereichen des Immunsystems (z. B. Komplement oder Phagozyten) vorliegen. „Wir kennen immer mehr Immundefekte, derzeit sind es ca. 300, Tendenz steigend. [2] Schätzungen zufolge sind weltweit rund sechs Millionen Kinder und Erwachsene von PID betroffen [3]“, erklärt Assoc.-Prof. Priv.-Doz. Dr. Kaan Boztug, Medizinischer und Wissenschaftlicher Direktor des Wiener Zentrums für Seltene und Undiagnostizierte Erkrankungen (CeRUD) der MedUni Wien und Direktor des Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases sowie Leiter des Bereichs Pädiatrische Immunologie am St. Anna Kinderspital.

Unbekannt, unentdeckt und lebensbedrohlich

Primäre Immundefekte können sich im Kindesalter oder auch erst im Jugend- oder Erwachsenenalter manifestieren. Führendes Symptom ist in den meisten Fällen eine deutlich erhöhte Infektanfälligkeit. Da die Diagnose häufig übersehen wird, werden Immundefekte oft zu spät erkannt – nicht selten erfolgt die Diagnose erst nach mehreren Jahren. Für die Betroffenen kann dies lebensbedrohlich sein, etwa wenn Infektionen einen schweren Verlauf nehmen (Sepsis, Meningitis, Pneumonie, etc.) oder sich bereits Langzeitschäden manifestiert haben. Experten gehen davon aus, dass 70 bis 90 Prozent der Betroffenen nach wie vor nicht diagnostiziert sind.

„Als Kinderarzt erlebt man, dass Kinder ständig krank sind – das ist meist normal und gehört zur Bildung eines gesunden Immunsystems dazu. Die große Herausforderung ist die Differenzierung was noch normal ist und was bereits pathologisch ist. Wir Kinderimmunologen sind spezialisiert darauf, diesen oft feinen Unterschied zu erkennen, ab wann man sich Sorgen machen muss und ab wann eine Therapie notwendig ist“, erläutert Boztug.

Zehn Warnzeichen können auf angeborene Immundefekte bei Kindern hinweisen [4]

  1. Mehr als 2 Lungenentzündungen pro Jahr
  2. Mehr als 2 schwere Nasennebenhöhlen-Entzündungen oder mehr als 8 Ohr-Infektionen in einem Jahr
  3. Schwere invasive Infektionen (z.B. Gehirnhautentzündung, Knocheneiterungen)
  4. Dauerhafter Pilzbelag im Mund oder anderswo nach dem 1. Lebensjahr
  5. Erkrankungen durch normalerweise ungefährliche Bakterien (atypische Mycobakterien)
  6. Wiederkehrende tiefe Haut- oder Organabszesse oder unklare chronische Rötungen bei Säuglingen an Händen und Füßen (Graft-vs.-Host-Disease)
  7. Mehr als 2 Monate Antibiotikatherapie ohne Effekt oder wiederholte Notwendigleit einer i.v.-Antibiotika-Therapie
  8. Anamnese von Primärem-Immundefekt-Patienten in der Familie
  9. Durch Impfungen ausgelöste Erkrankungen bei Kindern und Säuglingen
  10. Geringes Wachstum, geringes Körpergewicht

Univ. Prof.in Dr.in Elisabeth Förster-Waldl, Leiterin der Ambulanz für Störungen der Immunabwehr an der Uni-Klinik für Kinder und Jugendheilkunde der MedUni Wien – AKH Universitätscampus erklärt: „International werden die Warnzeichen immer wieder nachgeschärft, aber was immer bleibt, sind: Pathologische Infektanfälligkeit, Familienanamnese, Gewicht (beim Kind fehlende Zunahme, beim Erwachsenen unerklärlicher Gewichtsverlust) und fehlendes Ansprechen auf herkömmliche Therapien. Diese Warnzeichen gelten für Kinder und Erwachsene mit leichten altersentsprechenden Modifikationen. Primäre Immundefekte sind zwar angeboren, können aber auch erst im Laufe eines Lebens manifest werden, auch erst im Erwachsenenalter.

Transition und Vernetzung

Eine sehr wichtige Phase bei Primären Immundefekten ist der Übergang vom Kind zum Erwachsenen, wie,Förster-Waldl ausführt: „Wo geht der Patient hin, wenn er nicht mehr zum Pädiater geht? Als Erwachsener ist plötzlich eine Vielzahl von fachärztlichen Disziplinen zuständig – Gastro-Enterologie, Pulmologie, Dermatologie aber auch HNO-Medizin, Rheumatologie, Hämato-Onkologie, Allergologie und natürlich Klinische Immunologie. Idealerweise wendet er/sie sich an ein Kompetenzzentrum zur Abklärung.“

Unsere Medizin ist sehr organspezifisch, im Bereich der Primären Immundefekte ist aber oft eine Vielzahl von Organen betroffen und von Fachspezialisierungen berührt, die man koordinieren muss. Boztug dazu: “Wir haben mit dem Wiener Zentrum für Seltene und Undiagnostizierte Erkrankungen (CeRUD Vienna Center for Rare and Undiagnosed Diseases) der Medizinischen Universität Wien am Campus des Allgemeinen Krankenhauses der Stadt Wien ein ausgezeichnetes Kompetenzzentrum, das durch seine weltweite Vernetzung auch als Koordinator zwischen den unterschiedlichen medizinischen Fachrichtungen und Spezialisierungen fungiert. Derzeit holen sich Kollegen aus ganz Österreich immer wieder Expertise aus dem Wiener Kompetenzzentrum, der Patient kommt nur nach Wien, wenn es unbedingt notwendig ist. Sollte die Diagnose in Wien gemacht werden, der Patient aber in einem anderen Teil von Österreich leben, organisiert das CeRUD wohnortnahe Versorgung für den Patienten.“

Lebensqualität und Primäre Immundefekte

Menschen mit Primären Immundefekten sind in ihrer Lebensqualität oft stark eingeschränkt: Sie leben mit häufigen und/oder starken Infektionen, anhaltendem Husten, chronischen Nasennebenhöhlenentzündungen und hartnäckigen wiederkehrenden Infektionen. Auch die psychosoziale Situation ist zu beachten: Wenn jeder Kontakt mit anderen Menschen als Infektionsgefahr gesehen werden muss, führt dies zu sozialer Isolation und durch häufige Krankheitsphasen kann bei Kindern der Schulerfolg und bei Erwachsenen der berufliche Aufstieg sehr leiden.

Patientenwunsch: Individualisierte Immunglobulin-Therapie

So vielseitig wie die Erkrankung selbst sind auch die Behandlungsformen und die Bedürfnisse der Patienten, die von einem primären Immundefekt betroffen sind. Um aktiv am Leben teilnehmen zu können bedürfen sie fast immer einer lebenslangen Therapie. „Die häufigsten Immundefekte sind Störungen bei den Immunglobulinen – sie machen etwa die Hälfte aller Primären Immundefekte aus. Diese defekten oder zu wenig vorhandenen Immunglobuline kann man durch eine Immunglobulintherapie ersetzen. Die Antikörper werden aus Plasmaspenden gewonnen und dem Patienten injiziert“, führt Boztug aus und Förster-Waldl ergänzt: „In den letzten Jahren ist diese Therapieform auch deutlich patientenfreundlicher geworden. Es gibt mittlerweile Immunglobuline, die sich der Patient zu Hause selbst subkutan verabreichen kann – das muss meist einmal pro Woche in manchen Fällen sogar nur einmal pro Monat gemacht werden.“

Manche Patienten müssen über einen längeren Zeitraum mit Antibiotika behandelt werden. Impfungen muss man bei PID-Patienten genau abwägen, da Lebendimpfstoffe für sie gefährlich sein können. Eine Therapie, die aber wegen der hohen Risiken für den Patienten nur in extremen Fällen in Erwägung gezogen wird, ist die Stammzellentransplantation (= Knochenmarkstransplantation).

[1] Blaese RM, Bonilla FA, Stiehm ER, Younger ME, eds. Patient & Family Handbook for Primary Immunodeficiency Diseases. 5th ed. Towson, MD: Immune Deficiency Foundation; 2013. (GAMMAGARD marketed as KIOVIG outside the US and Canada). 

[2] Bousfiha A, Jeddane I, Al-Herz W, et al. The 2015 IUIS phenotypic classification for primary immunodeficiencies. J Clin Immunol. 2015; 35(8): 727-738. 

[3] Bousfiha AA et al.: Primary immunodeficiency diseases worldwide: more common than generally thought. J Clin Immunol. 2013 Jan;33 (1):1-7.

[4] https://www.oespid.org/deutsch/prim%C3%A4re-immundefekte/warnsignale/ (eingesehen am 24.4.2017)

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