Auf dem Weg zur zellulären Landkarte des Gehirns wurden nun Dutzende neue Neuronen-Arten im Hypothalamus katalogisiert.
Das menschliche Gehirn besteht aus Billionen von Zellen, von zig-tausenden kennt man weder die Funktion, noch wurden sie jemals katalogisiert. Die Erforschung dieser vielen noch unbekannten Zellen ist weltweit ein Schwerpunkt in der Hirnforschung, um neue Zellfunktionen aufzudecken, die bei vielen Erkrankungen von Bedeutung sind. An der MedUni Wien, in der Abteilung für Molekulare Neurowissenschaften im Zentrum für Hirnforschung, wurden nun bisher vielfach unbekannte Neuronen-Arten im Hyptohalamus identifiziert und katalogisiert und die Funktion einer bisher nicht bekannten Dopamin-Zelle ermittelt. Die Studie wurde nun im Top-Journal Nature Neuroscience veröffentlicht.
Möglich gemacht wird der exakte Blick in die zelluläre und molekulare Zusammensetzung des Gehirns durch die Kombination klassischer Methoden zur Zell-Identifizierung unter dem Mikroskop mit dem so genannten „single-cell RNA sequencing“. Dadurch wird es möglich, jeden Baustein einer Zelle zu erkennen – und das sind zehntausende mRNA-Moleküle pro Zelle.
„Der Hypothalamus ist die Stelle, die Stoffwechselprozesse im ganzen Körper reguliert, indem sie viele Hormone produziert. Daher ist das jener Bereich des Gehirns mit der höchsten Dichte und der Vielfalt an Neuronen. In Anbetracht dessen, dass nur 1.000 bis 5.000 Neuronen grundlegende hormonelle Abläufe wie Stress, Ernährung oder Schlaf-Regulierung steuern, verspricht die Aufdeckung dieser Neuronen neue und wichtige Erkenntnisse über die Interaktionen zwischen Gehirn und Körper“, erklärt Tibor Harkany, Leiter der Abteilung für Molekulare Neurowissenschaften im Zentrum für Hirnforschung.
Im Hypothalamus entdeckte und katalogisierte das Team vom Zentrum für Hirnforschung der MedUni Wien jetzt 62 verschiedene Neuronen, deren Funktion und Bedeutung im Zusammenspiel mit anderen Nervenzellen und Gehirnregionen nun erforscht werden können. Von einem Neuron, einer einzigartigen Dopamin-Zelle, konnte die Funktion bereits ermittelt werden. „Diese Zelle spielt eine Rolle bei der Ausschüttung von Hormonen ins Blut über die Hypophyse. Wir denken, dass die Zufuhr von Hormonen die in der Hypophyse produziert werden, nur dann funktioniert , wenn diese Dopamin-Zelle inaktiv ist“, erklärt Tomas Hökfelt, Gastprofessor am Zentrum für Hirnforschung, der bei der Entdeckung und Katalogisierung des Neuropeptid-Systems im Hypothalamus bereits vor 40 Jahren enorm wichtige Pionierarbeit geleistet hat. Die Hypophyse ist eine Art Schnittstelle, mit der das Gehirn über die Freisetzung von Hormonen Vorgänge wie Wachstum, Fortpflanzung, Sexualität und Stress reguliert.
Dementsprechend könnte es gelingen, Ansatzpunkte für Medikamente (Targets) in vielen der neu identifizierten Neuronen-Arten zu finden, die genau in diese Prozesse eingreifen könnten – etwa bei Adipositas, Empfängnisverhütung, Appetitlosigkeit, Schlaflosigkeit oder auch Narkolepsie (Schlafkrankheit). Es geht hauptsächlich um metabolische Vorgänge, die damit beeinflusst werden. „Deshalb könnten uns diese Erkenntnisse dabei helfen, neue Wege zu finden, um vielen der häufigsten Erkrankungen unserer Gesellschaft entgegenzuwirken. Unsere Studienergebnisse zeigen, dass neue Behandlungsoptionen, etwa durch bisher unbekannte Hormone, existieren könnten“, erklärt Roman Romanov, Erst-Autor und Hirnforscher an der MedUni Wien.
Wenn noch weitere derartige Zellen katalogisiert und deren Funktionen identifiziert sind, dann könnte es, so Harkany, in Zukunft möglich sein, Verbindungen, Beziehungen und Wechselwirkungen der Nervenzellen untereinander zu klären und sogar vorherzusagen, welches Neuron wie, wo und wann auf ein anderes wirkt – auch in weit voneinander entfernten Gehirnarealen.
Diese Studie, wie auch andere an der Abteilung für Molekulare Neurowissenschaften, wurde vom Europäischen Forschungs-Council (ERC) und von der europäischen, molekularbiologischen Organisation (EMBO) als „Frontline Research“ gefördert.