Montag, September 23, 2024

Corona-Krise, Coronavirus: Lungenversagen bei Covid-19 neural vermittelt

Atemstillstand und Lungenversagen durch schwere, Coronavirus verursachte Covid-19-Verläufe kann auch neurologische Gründe haben.

Unter dem Strich verstirbt ein gewisser Anteil der Coronavirus-Patienten mit SARS-CoV2-Infektion an einem akuten Lungenversagen, meistens in Folge einer schweren Form der Covid-19-Lungenentzündung.



Eine kürzlich publizierte Arbeit [1] beschreibt einen weiteren möglichen, bislang wenig erforschten Pathomechanismus des tödlichen Lungenversagens. Demnach könnte eine Beteiligung des Hirnstamms und somit des Atemzentrums eine Rolle spielen. Unbekannt ist, wie häufig das der Fall ist. Eine aktuelle Arbeit aus Science [2] gibt Anlass zur Hoffnung, dass schwere Verläufe grundsätzlich seltener als angenommen sind.

 

Lungenversagen durch die Coronavirus-Erkrankung Covid-19

SARS-CoV2 kann in seltenen Fällen zu einer schweren Form der Lungenentzündung führen, die unter Umständen ein akutes Lungenversagen (ARDS „Acute respiratory distress syndrome“) auslöst. Dabei handelt es sich um eine „überschießende“ Entzündungsreaktion.

In der Lunge sammeln sich dann Entzündungszellen und Flüssigkeit an. Einerseits behindert das rein mechanisch die Atmung. Andererseits zerstört die entzündlich-aggressive Flüssigkeit den körpereigenen Schutzfilm („Surfactant“) in den Lungenbläschen, die in Folge keinen Sauerstoff mehr aufnehmen können.

Neben diesen lokalen Ursachen könnte jedoch auch ein neurologischer Pathomechanismus zur Problematik des Lungenversagens beitragen, wie ein Ende Februar publizierter Übersichtsartikel aus China beschreibt [1].

 

Neuroinvasive Potential

Wobei auch zahlreiche, teilweise schon ältere Arbeiten zeigen, dass Coronaviren in das zentrale Nervensystem (ZNS) beziehungsweise in das Gehirn eindringen können. Und zwar insbesondere in den Hirnstamm. Dort befinden sich wichtige Steuerzentralen von Vitalfunktionen wie das Atemzentrum. Eine durch Viren ausgelöste Dysfunktion könnte einen Atemstillstand begünstigen, auch ohne Lungenentzündung.

Der neuroinvasive Potential der Viren könnte übrigens auch erklären, warum bei COVID-19-Erkrankungen neben den typischen Krankheitszeichen Fieber, Halsschmerzen und Husten auch neurologische Symptome wie der Verlust von Geruchs- und Geschmackssinn, Kopfschmerzen, Müdigkeit, Übelkeit, Erbrechen und Bewusstseinsstörungen auftreten.

Das neuroinvasive Potenzial der Erkrankung wurde bereits 2002/2003 beim SARS-CoV-Ausbruch beschrieben: Die Coronaviren fand man dabei nur in Gehirnzellen, nicht in den benachbarten Blut- oder Lymphbahnen, was für einen Infektionsweg über die Nervenzellen und nicht über Blut- oder Lymphgefäße spricht.



Tierexperimentell konnte der neurale Infektionsweg bereits nachgewiesen werden, er verläuft von der Nasenschleimhaut über sogenannte freie Nervenendigungen bis zum Gehirn. Die Viren werden dabei von Neuron zu Neuron über die Synapsen weitergegeben (über den Transportweg der Endo-/Exozytose).

 

Neurologische Symptome bei MERS-CoV

In dem aktuellen Review wurde darüber hinaus hervorgehoben, dass Tiere, die mit MERS-CoV („Middle East respiratory syndrome coronavirus“) infiziert waren, also einer anderen Untergruppe der Coronaviren, die 2012 entdeckt worden war, zum Teil verstarben, ohne Atemwegssymptome entwickelt zu haben. Die Viren fanden sich bei diesen Tieren nur zerebral, nicht aber in der Lunge. Interessant ist, dass die Viren in die Neuronen anscheinend nicht über denselben Zelloberflächenrezeptor gelangen wie in Lungenzellen, da dieser Rezeptor im Gehirn kaum vorhanden ist.

 

Rolle der Hirnstamm-Beteiligung

Auch in der aktuellen SARS-CoV2-Pandemie wird vielfach berichtet, dass Patienten schwer erkranken, sogar versterben, ohne zuvor respiratorische Symptome entwickelt zu haben. Aus neurologischer Sicht ist es für die Experten wichtig abzuklären, wie groß die Rolle der Hirnstammbeteiligung bei COVID-19-Patienten tatsächlich ist. Aalso wie viele der schweren Krankheitsverläufe auf das Konto des neuralen Pathomechanismus gehen. Man hofft, dass die großen internationalen COVID-19-Register zeitnah Daten dazu liefern.

 

Aktuelle Schätzung der Dunkelziffer: möglicherweise 86% der Fälle unerkannt!

Besonders wichtig sind die Registerdaten auch, um die tatsächliche Rate von schweren Covid-19-Verläufen generell beziffern zu können. Eine Studie zur Schätzung der Dunkelziffer wurde kürzlich in der Zeitschrift „Science“ publiziert [2].

Chinesische Wissenschaftler erstellten ein epidemiologisches Rechenmodell, in welches Beobachtungen über re-importierte SARS-CoV2-Infektionen unter anderem in Verbindung mit Mobilitätsdaten der Bevölkerung einbezogen wurden.

Auf diese Weise berechneten die Forscher, dass bis zum 23. Januar 2020 (vor den Reisebeschränkungen) 86% aller Infektionen undokumentiert waren. Möglicherweise auch, weil die Betroffenen keine oder nur milde Symptome hatten.

Eine solche Dunkelziffer würde erklären, wie sich das Virus in diesem Tempo um die ganze Welt ausbreiten konnte. Wenn diese Berechnungen allerdings stimmen, dann wären schwere Verläufe deutlich seltener als bislang angenommen.




Literatur

[1] Li1 YC, Bai WZ, Hashikawa T. The neuroinvasive potential of SARS-CoV2 may play a role in the respiratory failure of COVID-19 patients. J Med Virol 2020 Feb 27. doi: 10.1002/jmv.25728. [Epub ahead of print]

[2] Li2 R, Pei S, Chen B et al. Substantial undocumented infection facilitates the rapid dissemination of novel coronavirus (SARS-CoV2). Science. 2020 Mar 16. pii: eabb3221. doi: 10.1126/science.abb3221 [Epub ahead of print]


Quelle: Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN)

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