Von den Wikingern bis zum Nobelpreis: die neurologische Forschung kann in den skandinavischen Länder auf etwa 5.000 Jahre Tradition zurückblicken.
„Die Erforschung des Nervensystems und seiner Erkrankungen hat im Norden Europas eine lange und sehr erfolgreiche Tradition“, sagte Prof. Ragnar Stien, norwegischer Neurologe und Autor, beim 2. Kongress der European Academy of Neurology (EAN) in Kopenhagen bei seinem Vortrag über die Geschichte der Neurologie im skandinavischen Kulturkreis – von den vorgeschichtlichen Belegen bis zur nobelpreisgekrönten Forschung der Gegenwart.
Neurologische Forschung im Angesicht des Henkers
Wann ist das Bewusstsein weg, wenn einem der Kopf abgeschlagen wird? Diese Frage sollte die neurologische Forschung für die Joms-Wikinger klären. Als neurophysiologisches „Experiment“ hat einer altnordischen Saga zufolge ein Krieger seinen Henker gebeten, bei seiner Enthauptung ein Messer in der ausgestreckten Hand halten zu dürfen. Der Wunsch gewährt: der Todgeweihte wurde geköpft und das Messer fiel sogleich zu Boden.
„Prähistorische Funde belegen, dass in Skandinavien schon vor 5.000 Jahren Schädel trepaniert, also zur Behandlung von Erkrankungen des Gehirns oder zu kultischen Zwecken geöffnet wurden“, sagte Prof. Stien. Untersuchungen von Skeletten aus Wikinger-Gräbern zeigen, dass die Menschen des europäischen Nordens bestimmte neurologische Krankheiten bereits kannten und zu heilen versuchten. Neurologische Forschung schwingt in zahlreichen Sagas zu Erkrankungen des Nervensystems und deren Behandlung mit.
Berühmte Forscher des Nordens
In der frühen Neuzeit schrieb die berühmte dänische Gelehrtenfamilie Bertelsen Bartholin für die neurologische Forschung Geschichte: Caspar Berthelsen Bartholin (1585–1629) – Verfasser eines der damals viel gelesenen Handbücher der Anatomie – beschrieb als erster den Geruchsnerv. Sein Sohn Thomas Bartholin (1616–1680) – einer der wichtigsten Anatomen seiner Zeit – entdeckte das Lymphsystem als eigenständiges Organsystem. Einer seiner Schüler, der dänische Arzt, Anatom und Naturforscher Nicolaus Stensen oder Nicolaus Steno (1638–1686) verfasste 1665 in Paris einen „Diskurs über die Anatomie des Gehirns“.
Skandinavische Neurologen, Neurophysiologen und Biochemiker beschrieben als Erste heute wohlbekannte neurologische Erkrankungen und dienten als deren Namensgeber:
- Folling’s disease nach dem Norweger Ivar Asbjørn Følling (1888–1973);
- Wohlfart-Kugelberg-Welander Syndrom nach den schwedischen Forschern Erik Klas Hendrik Kugelberg (1913–1983), Gunnar Wohlfart (1910–1961) und Lisa Welander (1909–2001);
- das Refsum-Syndrom nach dem norwegischen Neurologen Sigvald Refsum (1907–1991);
- Morbus Krabbe nach dem Dänen Knud Haraldsen Krabbe (1885–1961).
Da Neurologische Forschung in den skandinavischen Ländern einen hohen Stellenwert hat, wurden dazu auch mehrerer Medizin-Nobelpreise verliehen:
- 1967 erhielt ihn der finnisch-schwedische Forscher Ragnar Granit (1900-1991) für die Untersuchung der physiologischen und chemischen Sehvorgänge im Auge.
- 2000 wurde der schwedische Pharmakologe Arvid Carlsson (geb. 1923) für die Entdeckungen zu Signalübertragung im Nervensystem ausgezeichnet.
- 2014 ehrte das Nobelpreiskomitee das norwegische Ehepaar May-Britt (geb. 1963) und Edvard Moser (geb. 1962). Sie erhielten die Auszeichnung für ihre Arbeiten zur räumlichen Orientierung und zum räumlichen Gedächtnis, mit denen erstmals eine psychologische Funktion auf mechanistischem Niveau auf die Funktion von (einzelnen) Neuronen zurückgeführt werden konnte.
Quelle: EAN 2016 Abstract Stien R, A short introduction to the history of Scandinavian neurology: from the sagas to the Nobel prizes