„Auf einem Bein kann man nicht stehen“ ist das Motto der aktuellen gemeinsamen Tagung der Deutschen Gesellschaft für Diabetologie und der Deutschen Gesellschaft für Angiologie/Gefäßmedizin. Unser Motto soll zeigen, dass wir Beine erhalten wollen, sprich Ober- und Unterschenkelamputationen bei Diabeteserkrankten reduzieren wollen. 30 000-mal werden in Deutschland jährlich Beine bei Diabeteskranken abgenommen, und fast immer ist eine nicht heilende Wunde am Fuß die Ursache. 80 Prozent aller Major-Amputationen (Ober- oder Unterschenkel) werden bei Patientinnen und Patienten mit Diabetes mellitus durchgeführt.
Wenn man also Wunden verschließt, kann man Amputationen verhindern, Beine erhalten und damit ein riesiges Stück Lebensqualität für diese meist älteren Patienten gewinnen. Häufigste Ursache einer Fußwunde bei Diabetes (des diabetischen Fußsyndroms, DFS) sind die Nervenstörung (diabetische Neuropathie) und die arterielle Durchblutungsstörung (periphere arterielle Verschlusserkrankung, PAVK). Die erprobte Behandlung des DFS richtet sich nach dem Grundsatz DIRA:
Druckentlastung
Infektionsbekämpfung
Revaskularisierung (Verbesserung der Durchblutung durch Katheter oder Gefäßoperation)
Amputation (zu vermeiden, und wenn, dann so sparsam wie möglich)
Was aber passiert mit jenen Wunden, die wir trotz konsequenter Anwendung des DIRA-Prinzips nicht verschließen können? Häufig droht dann die große Amputation – ein Eingriff, der die Lebenserwartung drastisch verkürzt, weil fast immer mit dauerhafter Bettlägerigkeit verbunden – weniger als 15 Prozent der ober- oder unterschenkelamputierten Diabeteskranken können wieder mit Prothesen gehen lernen. Der Krankheitskomplex heißt „kritische Extremitätenischämie“ – kritisch deswegen, weil ohne Behandlung eben die Amputation droht (auf Englisch: critical limb ischemia), die viel gebrauchte Abkürzung dafür CLI, und wenn man die Durchblutung nicht (mehr) verbessern kann, NO-CLI (no-option CLI).
Deswegen suchen Ärztinnen und Ärzte, Angiologinnen und Angiologen, Diabetologinnen und Diabetologen, die Patienten mit DFS behandeln, fortlaufend nach neuen Therapiemethoden für chronische Wunden, nicht nur, aber auch bei CLI. Einige dieser neuen Behandlungsansätze will ich im Folgenden kurz vorstellen.
Stammzelltherapie der PAVK, des DFS aufgrund von Durchblutungsstörungen/bei NO-CLI
besser/treffender: Zelltherapie. „Echte“ (embryonale/induzierte) Stammzellen werden tatsächlich nicht eingesetzt, sondern Vorläufer- und Reparaturzellen – entweder aus dem Knochenmark des Patienten oder aus seinem Fettgewebe, auch im Labor aus Patientenzellen expandierte Zellpopulationen, zum Beispiel aus Bindegewebszellen der Haut (Fibroblasten). Hintergrund ist, dass die Kapazität zur Ausbildung von Umgehungskreisläufen (Kollateralarterien) bei PAVK durch die Diabeteserkrankung deutlich reduziert wird (Fadini 2005, 2020); die Einspritzung von patienteneigenen Vorläuferzellen oder auch kultivierten Fremdspenderzellen soll diese Umgehungskreisläufe zum Wachsen anregen und dadurch die Blutversorgung verbessern – Stichwort „Natural Bypass“. Die meisten Erfahrungen liegen mit patienteneigenen (autologen) Knochenmarkzellen vor – laut Übersichtsarbeiten (unter anderem Magenta 2021) wurden circa 12 000 Patienten weltweit seit 2005 mit Knochenmarkzellen behandelt, mit Wundheilungsraten zwischen zehn und 80 Prozent. Mit Zellen aus Fettgewebe oder aus Fibroblastenkulturen geschätzt etwa weitere 5 000 Patienten, auch hier mit Ansprechraten zwischen zehn und 70 Prozent. Wichtig zu erwähnen: Gravierende Nebenwirkungen traten bei all diesen Zelltherapien nicht auf, jedoch ist die therapeutische Effizienz noch nicht bewiesen. Nichtsdestotrotz wird die Zelltherapie, weil eben nebenwirkungsarm, oft als letzter Versuch („Ultima Ratio“) zum Extremitätenerhalt beim durchblutungsbedingten diabetischen Fußsyndrom mit NO-CLI eingesetzt. Auf der Zelltherapie ruhen große Hoffnungen – die bahnbrechende Veröffentlichung von Tateishi-Yuyama in Lancet 2002 liegt auf Platz zwei der meistzitierten wissenschaftlichen Publikationen im Bereich PAVK (Choinski 2021). Über 100 Arbeitsgruppen weltweit forschen an zellulär-regenerativen Therapien bei Durchblutungsstörungen.
Behandlung nicht heilender Wunden bei DFS/PAVK mit plättchenreichem Plasma (PRP, platelet rich plasma)
Diese Therapiemodalität ist bekannt als „Vampirtherapie“, vor allem aus der ästhetischen Medizin. Prinzip: Blut wird zentrifugiert, die Blutplättchen isoliert und konzentriert, das Plättchenkonzentrat wird auf die Wunde aufgebracht und aktiviert – woraufhin die Plättchen zerfallen und die darin gespeicherten Wachstumsfaktoren freigesetzt werden, und das in sehr hoher (supraphysiologischer) Konzentration. PRP ist hilfreich bei flachen, großen Wunden, da das Hautwachstum („Epithelialisierung“) geboostert wird. Auch bei durchblutungsgestörten Wunden kann dieser Boost entscheidend für den Heilungsfortschritt und den Wundverschluss sein (Kontopodis N, 2015, Hossam 2022). PRP hat, auch wegen der Verbesserung und Vereinfachung der Herstellung, neben der kosmetischen Anwendung bei DFS eine Renaissance erfahren, und die Studienlage ist so tragfähig, dass ein Therapieversuch bei Nichtheilen einer Wunde trotz optimaler bisheriger Behandlung empfehlenswert scheint. Auch hier wichtig: Relevante Nebenwirkungen hat die PRP-Therapie nicht, und sie kann mehrfach wiederholt werden.
Plasma/Kaltplasmatherapie
Wie die Stammzelltherapie, wie die Vampirtherapie hat auch „Plasma“ eine Tendenz zum Buzzword – viele Hersteller nutzen das, und es gibt Geräte zur Erzeugung von Kaltplasma zur Haut-/Wundbehandlung bereits für wenige Hundert Euro von zum Beispiel chinesischen Herstellern zu kaufen, gerne ohne CEKennzeichen …
Prinzip: Strom erzeugt Plasma, das heißt elektrisch geladene Teilchen (Ionen) aus Raumluft. Nahe der Wunde erzeugt und ein bis fünf Mal wöchentlich angewandt, soll gasförmiges Plasma Bakterien auf der Wunde abtöten und die Wundheilung anregen. Die Studienlage ist widersprüchlich (Assadian 2019, Moelleken 2020), aber die Euphorie groß. Erfreulicherweise haben sich Ärzte vor allem aus der Dermatologie, aber auch aus Angiologie und Diabetologie zusammengefunden und versuchen, den Wildwuchs mit der Erstellung von Leitlinien zur Plasmamedizin und standardisierten Anforderungen an die Geräte zu kontrollieren. Plasma wird sicher ein großes Thema in den nächsten Jahren bleiben.
Selten eingesetzt wird die hyperbare Sauerstofftherapie (HBO). Diese findet bei zwei- bis dreifachem Atmosphärendruck in Tauchkammern statt – laut G-BA „… handelt es sich bei der HBO um eine sehr aufwendige und zeitintensive Behandlungsmethode, bei der die Patientinnen und Patienten in einer Druckkammer – also unter erhöhtem Luftdruck – reinen Sauerstoff einatmen. Über die Lunge wird das Blut mit Sauerstoff angereichert. Ziel der HBO beim diabetischen Fußsyndrom ist es, das Wundgewebe des Fußes mit mehr Sauerstoff zu versorgen und eine Heilung anzuregen. Eine Therapiesitzung dauert zwischen 45 und 120 Minuten und wird täglich über einen Zeitraum von mehreren Wochen durchgeführt.“ Unbedingt muss eine optimale Standardwundbehandlung durchgeführt werden. Trotz der Befürwortung durch den G-BA 2018 sind die Meinungen zur HBO bei den Wundbehandlerinnen und -behandlern aus Diabetologie und Angiologie zumindest geteilt, wenn nicht überwiegend ablehnend (Spraul 2019). Der riesige technische und personelle Aufwand, die hohen Kosten zu Lasten des Solidarsystems und eine negative Cochrane-Bewertung der HBO (Kranke 2015) haben die hyperbare Sauerstofftherapie zu einer selten angewandten Behandlung werden lassen. Wichtiger als zum Beispiel eine HBO ist beim DFS die konsequente Anwendung des DIRA-Prinzips.
Zu guter Letzt: Für die oben genannten Methoden bemühen sich Ärzte und Grundlagenforschende um Evidenz, um Nutzen oder Schaden zu beweisen, und wenden hierfür wissenschaftliche Prinzipien konsequent an.
Für viele andere Methoden, nicht zu Unrecht „Außenseitermethoden“ genannt, gilt dies nicht – also zum Beispiel sogenannten „medizinischen“ Honig, Zitronensaft auf Wunden, Bioresonanz, TCM, Ozon usw. (Merksatz der Wundbehandler: „Nur was man sich selbst ins Auge gäbe, soll auf Wunden.“)
Dass viele DFS-Patienten trotzdem sogenannte Außenseitermethoden einsetzen, zeigt uns, dass noch viel zu tun ist in der Wundheilung. Auch dafür suchen wir im gemeinsamen Kongress der DGA und DDG den Schulterschluss!
Literatur:
Quelle:
Innovationen in der Wundbehandlung: Stammzellen, Kaltplasma, Vampirtherapie und Co. STATEMENT Dr. med. Berthold Amann Tagungspräsident der Deutschen Gesellschaft für Angiologie (DGA), Chefarzt der Klinik für Innere Medizin am Franziskus-Krankenhaus Berlin, 16. Diabetes Herbsttagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Angiologie (DGA), Düsseldorf November 2022.